Das Letzte Ritual
beklagt. Sie erzählte allerdings, die meisten Frauen bei der Firma, bei der sie angestellt ist, hätten diese Wohnung nicht übernehmen wollen.«
»Wie das wohl kommt?«, sagte Dóra ironisch und deutete auf die Bilder an den Wänden. Sie ähnelten den Bildern im Wohnzimmer, allerdings wurden auf diesen vor allem Frauen gefoltert, gequält oder umgebracht. Die meisten Frauen waren von der Taille an aufwärts nackt, andere vollkommen nackt. »Das sieht ja aus wie bei jedem anderen im Schlafzimmer.«
»Vielleicht hatten Sie bisher einfach mit den falschen Leuten zu tun«, entgegnete Matthias und lächelte kurz.
»Das war ein Witz«, konterte Dóra. »Ich war selbstverständlich noch nie in einem Schlafzimmer, das so dekoriert war.« Sie ging zu einem großen Bildschirm, der an der Wand gegenüber vom Bett hing. »Ich möchte lieber nicht wissen, welche Filme er sich angeschaut hat«, sagte sie und bückte sich zu dem DVD-Player, der auf einer niedrigen Kommode unter dem Bildschirm stand. Sie schaltete ihn ein und betätigte die Ausgabetaste, aber der Auszug war leer.
»Ich habe die DVD schon rausgenommen«, sagte Matthias, der ihre Bemühungen vom Bett aus beobachtete.
»Was hat er sich angesehen?«, fragte Dóra und drehte sich zu Matthias.
»König der Löwen«, entgegnete Matthias, ohne mit der Wimper zu zucken, und stand auf. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Arbeitszimmer. Da finden wir am ehesten etwas, das uns weiterhelfen könnte.«
Dóra erhob sich, um ihm zu folgen, beschloss dann aber, einen kleinen Umweg einzulegen und Haralds Nachttisch zu untersuchen. Sie zog die einzige Schublade heraus. Darin befanden sich eine Menge Cremedöschen und Tuben, die offenbar privaten Zwecken dienten, sowie eine aufgerissene Packung Kondome, aus der schon ein paar Stück fehlten. Es muss also Frauen geben, die sich von dem Wandschmuck nicht abschrecken lassen, dachte Dóra. Sie schloss die Schublade und folgte Matthias.
10. KAPITEL
Laura Amaming schaute auf die Uhr. Es war zum Glück erst Viertel vor drei – sie hatte noch genug Zeit, um ihre Arbeit fertig zu machen und pünktlich um vier beim Unterricht zu sein. Sie lebte jetzt seit einem Jahr in Island und hatte es endlich geschafft, sich im Herbst für den Studiengang ›Isländisch für ausländische Studenten‹ einzuschreiben. Laura wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Es traf sich gut, dass der Unterricht im Hauptgebäude der Universität stattfand, in direkter Nähe zum Árnagarður, wo sie putzte. Es wäre fast unmöglich für sie gewesen, dieses Studium anzufangen, wenn der Unterricht woanders stattfinden würde – sie war erst eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn mit der Arbeit fertig und besaß kein Auto. Heute mussten die Innenseiten aller Fenster auf der Nordseite im ersten Stock geputzt werden; Laura hatte Glück; die ersten drei Büros waren leer. Man konnte viel besser putzen, wenn niemand im Raum war. Wenn jemand ihr dabei zuschaute, mit dem sie sich nicht unterhalten konnte, war ihr das sehr unangenehm. Es würde aber alles besser werden, wenn sie erst die Sprache gelernt hatte. Zu Hause auf den Philippinen war sie gesellig und alles andere als schüchtern gewesen. Hier kam sie sich immer fehl am Platze vor, außer im Kreis ihrer Landsleute – bei der Arbeit fühlte sie sich sogar oft eher wie ein Gegenstand als wie ein Mensch; die Leute sprachen und verhielten sich so, als sei sie gar nicht da. Alle, außer Tryggvi, dem Chef der Putzkolonne. Der Mann behandelte sie immer zuvorkommend und bemühte sich sehr, mit Laura und ihren Kolleginnen Kontakt aufzunehmen, auch wenn dieser oft aus wilden Gebärden bestand, die manchmal ziemlich lustig aussahen. Wenn die Frauen versuchten, zu erraten, was er ihnen sagen wollte, ließ er sich von ihrem Gekicher nie aus der Ruhe bringen. Tryggvi war ein hochanständiger Mensch, und Laura freute sich darauf, sich bald mit ihm in seiner eigenen Sprache unterhalten zu können. Aber eins war klar – sie würde niemals seinen Namen aussprechen können, selbst wenn sie alle Isländischkurse dieser Welt besuchte. Sie sagte leise »Tryggvi« und musste beim Klang ihrer eigenen Worte lächeln.
Laura ging zum großen Zimmer für die Studenten, das als eine Art Aufenthaltsraum genutzt wurde. Sie klopfte sanft an die Tür und trat ein. Auf dem verschlissenen Sofa am anderen Ende des Raumes saß ein junges Mädchen, das Laura aus der Clique des ermordeten Studenten kannte. Diese jungen Leute waren allerdings
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