Das letzte Sakrament
alleine.
Das Kreuz war mit einer millimeterdünnen Blattgoldschicht verkleidet, unter der sich ein Bleimantel verbarg. Blei fühlte sich für den Laien ähnlich schwer an wie Gold, und es war für Röntgenstrahlen kaum zu durchdringen. Trotzdem wog das Kreuz nicht so viel, dass es für Kunen hätte eine Bürde sein können, zumindest nicht für einen durchtrainierten Mann wie ihn. Der kleine Koffer, der es umgab, war auch nicht von Belang.
Nein, es war die Macht, die von dem Kreuz ausging. Die Macht, an der er so schwer trug. Diese unheimliche Kraft, die er nur zu gut kannte. Von der er geglaubt hatte, er würde ihr nie wieder verfallen, damals, als er die Fremdenlegion verlassen hatte. Aber jetzt spürte er sie wieder, er spürte sie ganz deutlich: die Macht, einen Menschen zu töten.
Kunen nahm den Koffer, verließ seine Kabine und ging zur Treppe. Am Heck des Schiffes stieg er hinauf zum Oberdeck. Die Sonne hatte den Kampf mit der Dunkelheit schon verloren. In der Ferne schimmerten die letzten Lichter von Tunis. Das Heck lag etwas höher als das Sonnendeck im mittleren Teil des Schiffes. Der unbestreitbare Vorteil dieses Platzes war der riesige Schornstein, der unablässig schwarze Dieselwolken in die Luft schoss. Nicht dass ihm dies behagte, nein, es missfiel ihm genauso wie den meisten Gästen. Und deshalb war das Heck ausgestorben wie ein Frühstücksbüfett nach dem Einfall einer Horde Touristen. Außerdem war man hinter dem dicken Schlot perfekt geschützt vor den Blicken anderer, konnte sie selbst aber gut beobachten. Erst recht wenn man sich wie Kunen darin verstand, nicht gesehen zu werden.
Bei seinen Besuchen auf dem Oberdeck hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, ein kleines Fernglas mitzunehmen. Das war nicht einmal auffällig, denn tagsüber gab es viele Passagiere, die eines trugen. Was immer sie damit beobachteten, die Vögel, das Land oder ihre Ehegatten im Gespräch mit irgendwelchen Deckschönheiten. Und er beobachtete einen Wissenschaftler, natürlich nur, falls niemand zusah.
Er war sich sicher, dass Wismut ihn noch nicht entdeckt hatte. Denn natürlich hatte Kunen das Foto, das noch auf der Landungsbrücke von ihm geschossen worden war, an der Stellwand gefunden, es sofort entfernt und gekauft.
Der Vikar dachte an die letzte Nacht zurück. Der Professor war an Deck gekommen, ein paar Schritte gegangen und hatte sich dann an die Reling gelehnt. Er hatte dort bewegungslos gestanden, versunken in den Anblick des Meeres und der unendlichen Weite. Wismut war eine halbe Stunde an Deck geblieben, hatte sich dann plötzlich umgedreht und war wieder in der Dunkelheit verschwunden. Diese halbe Stunde hatte Kunen ausgereicht, um zu erkennen, dass der Professor die Freiheit und das Meer so sehr liebte, dass er wiederkommen würde.
Heute Nacht.
Doch dieses Mal würde er nicht so einfach wieder verschwinden.
78
Wir haben keine Ahnung, wie die Dinge funktionieren, die uns umgeben. Trotzdem benutzen wir sie. Wir denken, wir wären Meister der Technik, weil wir Geräte bedienen können, die wir gar nicht verstehen. Dabei sind wir nichts anderes als Zauberlehrlinge!
Pandera war kein Technikfeind, ganz im Gegenteil. Aber er liebte es, den Dingen auf den Grund zu gehen. Auch er war nur ein Zauberlehrling, aber wenigstens einer, der wusste, wie man den Zauberstab zu halten hatte. Er nahm den Scheckkartenleser zum Lesen und Beschreiben von Zugangsausweisen und schloss ihn an seinen Laptop an. Den Leser hatte er immer in seinem Gepäck. Es dauerte nur zwei Minuten, dann sah er die Datenstruktur des Bordausweises auf seinem Bildschirm.
Auch wenn er kein Hacker war, in seiner Zeit im Dezernat für Wirtschaftskriminalität in Frankfurt hatte er einiges gelernt. Im Prinzip konnte jeder eine Zugangskarte knacken, wenn er über die richtige Software und einen Kartenleser verfügte. Die Sicherheitsvorkehrungen auf solchen RFID-Karten waren so effektiv wie eine Tresortür aus Papier. Wenn sie überhaupt vorhanden waren, denn häufig lagen die Daten ungeschützt in ihrem digitalen Bettchen, und jeder der kam, konnte sie wecken, ob es nun Rotkäppchen war oder der böse Wolf.
Das war auch hier der Fall. Die Daten auf dem RFID-Chip des Bordausweises waren nicht verschlüsselt. Es war erschreckend, wie naiv der Umgang mit dieser Technik immer noch war. Doch hier und heute war nicht der Ort und Zeitpunkt, sich darüber zu beklagen. Nein, ganz im Gegenteil.
Besaß man nämlich zwei unterschiedliche Bordausweise,
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