Das letzte Treffen
von
Menschenhand bewerkstelligt wurde. Alle Gerüchte in diese
Richtung wären daher völlig aus der Luft gegriffen.
»Du darfst meinen
Umschlag mitnehmen, wenn du ihn mir wieder zurückbringst«, sagt
Matthildur, als ich die ausgeschnittenen Artikel quergelesen habe.
»Was soll ich damit
machen?«
»Ich muss wissen, was
meinem Kalli passiert ist.«
»Mir scheint, daran
besteht kein Zweifel«, antworte ich. »Gemäß diesen
Artikeln ist er ins Meer gefallen und ertrunken.«
»Ich war nie so ganz
einverstanden mit der Erklärung der Polizei«, sagt Matthildur.
»Jetzt sagen sie da in dieser ausländischen Zeitung, dass
Donald ein Kinderschänder gewesen ist. Ich finde, das lässt den
ganzen Fall in neuem Licht erscheinen. Ich befürchte, Donald hat sich
an meinem Kalli vergriffen.«
»Das wäre ein Fall
für die Kripo, so etwas zu untersuchen.«
Matthildur hustet immer
wieder in ein weißes Papiertaschentuch. das sie sich dicht vor den
Mund hält. Ihr ausgemergelter Körper wird von der Anstrengung
geschüttelt.
»Die Polizei will mir
nicht helfen, sie sagen, dass es an der Sache an sich sowieso nichts
ändert. Deshalb habe ich mich an dich gewandt.«
»Ich habe keine Zeit
übrig, mich um noch einen Fall zu kümmern«, antworte ich.
»Wie du siehst, ist meine Schwangerschaft schon weit
fortgeschritten, und ich muss auf mich aufpassen.«
»Diese Männer
wissen nicht, wie es für eine Mutter ist, ihr Kind zu verlieren und
jahrelang in der Ungewissheit zu leben, was wirklich passiert ist«,
sagt Matthildur und schaut mir mit bittendem Blick direkt in die Augen.
»Du wirst jetzt Mutter, und deshalb kannst du dich in meine Lage
versetzen. Ich weiß, dass du viel besser verstehst als diese Männer,
warum ich vor meinem Tod wissen muss, was mit Kalli passiert ist.«
Ganz instinktiv gucke ich
hinunter auf meinen Babybauch. Höre dabei Matthildurs schwere,
rasselnde Atemzüge.
Verdammt, was bin ich doch rührselig
geworden.
»Hast du den Artikel
aus der Los Angeles Times im Internet gefunden?«, frage ich schließlich
nach kurzer Pause.
»Nein, nein, ich habe
keine Ahnung von Computern. Jemand hat ihn mir mit der Post geschickt.«
»Jemand, den du kennst?«
»Ich weiß es
nicht, im Brief lag kein Anschreiben, und auf dem Kuvert stand auch kein
Absender. Im Umschlag war nichts anderes als diese ausländische
Nachricht.«
»Wie merkwürdig.«
»Das finde ich auch.«
»Hast du den Abschnitt
über den Wonderland Club mit gelbem Stift markiert?«
»Nein, nein, das Blatt
wurde mir so geschickt.«
»Dann wollte wohl
jemand ganz sicher sein, dass du die Stelle mit den Kinderpornos liest?«
»Ja, der, der mir den
Artikel geschickt hat, hat diese Stelle extra angestrichen.«
»Fällt dir jemand
ein?«
»Nein, aber ich werde
mich bei diesem herzensguten Menschen nie genug bedanken können, wenn
dieser Artikel dazu führt, dass die Wahrheit endlich ans Licht kommt.«
Hmm.
»Ich lasse mir die
Sache in den nächsten Tagen durch den Kopf gehen«, antworte ich
schließlich. »Aber mehr will ich nicht versprechen.«
»Herzlichen Dank«,
sagt Matthildur. Sie beugt sich im Sessel vor und drückt mir beide Hände.
»Ganz, ganz herzlichen Dank, meine Liebe.«
Ich schiebe den Umschlag in
meine Aktentasche. Verabschiede mich von Matthildur. Gehe so schnell ich
kann die langen Gänge des Pflegeheims
entlang. Beeile mich, aus diesem Wartesaal des Todes hinauszukommen.
Draußen ist es weiß
und kalt. Der Frost hat in den letzten Tagen nicht nachgelassen, obwohl es
nicht mehr lange bis zum ersten Sommertag dauert.
Der helle Schnee ruht auf dem
Flachland und kleidet die Berge hinter dem weiten Faxaflói in den
weißen Umhang des Winters.
»Kälte ist der
Atem des Todes.«
Sagt Mama.
14. KAPITEL
Die Heizung im Silberpfeil
schnurrt gemütlich. Wie ein verschmustes Kätzchen. Vertreibt die
Kälte aus dem Auto, die dem pfeifenden Nordwind folgt.
Will denn der Frühling
gar nicht kommen?
Ich versuche, es mir hinter
dem Steuer bequem zu machen. Habe mir wieder einmal den Sitz weiter nach
hinten geschoben. Damit das Lenkrad nicht ständig an meinen Babybauch
stößt.
Nachdem ich an Njardvik
vorbeigefahren bin, gebe ich kräftig Gas. Erlaube dem Motor, sich auf
dem grauschwarzen Asphalt der Reykjanesbraut richtig auszutoben.
Über zweihundert
deutsche
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