Das letzte Treffen
schon interessant, wie gut es mir gelingt
durchzuhalten. Er war überrascht, mich noch unter den Lebenden zu
sehen, dachte, ich sei längst gestorben, aber ich habe ihm gesagt,
und das sage ich auch dir jetzt, dass ich mich weigere, dem Sensenmann zu
folgen, bis ich weiß, was aus meinem kleinen Jungen geworden ist.
Wenn ich die Wahrheit zu hören bekomme, bin ich bereit, auf der
anderen Seite wen auch immer zu treffen, aber bis dahin halte ich durch.«
»Dir ist es mit deinem
Brief ganz unbestritten gelungen, meine Neugier zu wecken.«
»Ich danke dir für
dein Kommen«, sagt Matthildur. »Um ehrlich zu sein, habe ich
eher damit gerechnet, dass du mich nicht besuchen würdest, so wie die
anderen, die ich um Hilfe gebeten habe.«
»Welche anderen?«
»Als ich vor dem
letzten Wochenende diesen Artikel in die Hand bekam, habe ich sofort beim
hiesigen Bezirksverwalter angerufen und dann auch bei der Polizei in
Reykjavik, aber da wollte mir niemand zuhören. Die haben bestimmt
gedacht, ich sei eine verkalkte alte Schachtel.«
»Warum interessierst du
dich für Donald Garber?«
»In dieser
amerikanischen Zeitung steht, dass er ein Kinderschänder war. Davon
hatte ich noch nie etwas gehört.«
»Aber was hast du damit
zu tun?«
»Ich kenne Donald von
früher, als er noch auf der Base war.«
»Ach …?«
»Ja, wir hatten in dem
Winter, in dem mein Kalli verunglückt ist, eine Beziehung.«
»Kalli?«
Sie steht langsam auf.
Schlurft mit gebeugtem Rücken zum Nachttisch. Öffnet die oberste
Schublade. Nimmt einen großen braunen Umschlag heraus.
»Kalli war mein
einziger Sohn«, antwortet Matthildur.
Sie lässt sich wieder im
Sessel nieder. Mit dem großen Umschlag auf dem Schoß.
»Er war erst neun Jahre
alt, als er verschwand«, fügt sie hinzu.
»Dein Sohn Kalli? Wann
ist er verschwunden?«
»Es war am 17. Februar.
Er ging raus, um mit seinem Freund Kobbi zu spielen, die beiden Jungs
waren immer zusammen, aber er kam nie wieder zu mir nach Hause zurück.«
»Was hat Donald Garber
damit zu tun?«
»Kalli hat heute
Geburtstag. An seinem Geburtstag zünde ich um halb zehn immer eine
Kerze für ihn an. Mein Junge wäre heute vierzig geworden.«
»Wie?«
»Ja, es ist schon lange
her, seit mein Kalli verschwunden ist«, sagt Matthildur und reicht
mir den braunen Umschlag. »Hier kannst du alles nachlesen.«
Ich ziehe einen Stapel Papier
aus dem Umschlag.
Ein Haufen vergilbter Artikel
aus isländischen Tageszeitungen. Kopien von Nachrichten aus dem Jahr
1974. Auch zwei Briefe. Ein Exemplar der Zeitschrift Mannlif. Und ein Foto
von einem kleinen Jungen.
Er hat ein liebes Gesicht.
Mit hellem Haar, das glatt an den Wangen herunterfällt.
Strahlend blaue Augen. Eine Stupsnase. Ein fröhliches Lächeln
auf den Lippen.
Ich zeige Matthildur das
Foto.
»Ist er das?«
»Ja, das ist mein
Kalli.«
Ich überfliege schnell
die Zeitungsartikel.
Zwei neun Jahre alte Jungen,
Karl Illugason und Jakob Geirsson, gingen am Sonntag, den 17. Februar
1974, zusammen hinaus, um am Strand nördlich der Stadt zu spielen. An
diesem Tag war leichter Schnee gefallen, und die Felsen, die an manchen
Stellen hoch über die Strandbefestigung hinausragten, waren mit
Glatteis überzogen.
Ein wenig später kam
Jakob alleine nach Hause zurück, aber Karl spielte weiter zwischen
den Felsen auf der Uferbefestigung am Meer. Als er gegen achtzehn Uhr noch
nicht heimgekehrt war, begann Matthildur, sich nach dem Jungen umzuhören.
Die offizielle Suche begann erst gegen Mitternacht.
Trotz der genauen Suche von
Polizei und dem Suchdienst der Pfadfinder wurde nichts am Strand gefunden,
das einen Hinweis darauf gab, was dem lungen passiert sein könnte. Außer
einem Käppi, das Karl am Tag, an dem er verschwand, aufgesetzt hatte.
Es wurde am Strand entdeckt.
Ein paar Tage lang wurde bei
Ebbe von morgens bis abends der Strand abgesucht, um die Leiche des Jungen
zu finden. Aber ohne Erfolg.
Die Schwarzjacken in Keflavik
sagten den Nachrichtengeiern, dass alles darauf hinweisen würde, der
kleine Karl sei ins Meer gefallen und habe sich nicht alleine an Land
retten können, weil in diesem Gebiet starker Wellengang herrsche und
die Wellen kräftig gegen die Uferbefestigung krachten. Sie betonten,
bei den Ermittlungen des Falles habe sich nichts herausgestellt, das
darauf schließen ließe, dass das Verschwinden des Jungen
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