Das Leuchten der Orchideen: Roman (German Edition)
zurückkehrte, hatte die Bedara, die Begrüßungszeremonie, bereits begonnen. Alle saßen im Kreis, Frauen und Kinder weiter hinten, Männer und Besucher vorn. Neben dem Stammesführer hockte ein sehr alter Mann, dessen Züge im kühlen Halbdunkel wie gemeißelt wirkten. Er trug das graue Haar in einer Art kurzer Topffrisur, die festgeklemmten Ponyfransen bildeten eine gerade Linie über seiner Stirn. Seine Ohrläppchen waren gespreizt und hingen ihm schwer bis fast auf die Schultern, und er war nur mit einem Cawat bekleidet, dem in der Region typischen Lendentuch, das man vorne locker herunterhängen ließ. Seine Haut war überall tätowiert, selbst auf den Handrücken. Jedermann erwies ihm großen Respekt.
»Das ist Tuai Rumah Jimbun, der Vater von Tuai James. Er ist jetzt achtzig Jahre alt und hat zu Kolonialzeiten bei den Sarawak Rangers gedient. Hochachtung genießt er nicht nur wegen seines Alters, sondern auch, weil ihm das britische Georgskreuz verliehen wurde, die höchste zivile Auszeichnung für Tapferkeit«, erklärte Chitra.
Der alte Mann hielt eine kurze Ansprache. Anschließend stellte die Frau von Tuai James einen Krug in die Mitte des Kreises, dazu Gläser und Plastikbecher.
»Das ist Tuak, vergorener Reiswein«, flüsterte David Julie zu. »Aber du kannst nicht ablehnen, das wäre eine Beleidigung.«
Es gab viel Gelächter, spontane Trinksprüche und scherzhaftes Geplänkel, als die Gläser gefüllt und herumgereicht wurden. Julie trank einen Schluck und fand das Getränk außerordentlich stark, doch als sie das Glas an Chitra weitergeben wollte, erhob sich allgemeiner Protest. Ihr blieb nichts anderes übrig, als das Glas zu leeren. Nach drei Gläsern war ihr dann reichlich schwindelig, und sie warf Chitra einen hilfesuchenden Blick zu.
Die sprach kurz mit James’ Frau und sagte dann zu Julie: »Nenek, die Großmutter, wird Sie rausbringen. Zu den Toiletten. Die allerdings sehr schlicht sind, fürchte ich.« Chitra lächelte entschuldigend.
Was die Toiletten betraf, hatte Chitra recht. Als sich Julie wieder auf den Weg zurück zum Ruai machte, traf sie auf eine Gruppe Kinder, die draußen spielten. Einige Jungs kletterten gerade flink einen hohen Jackbaum hinauf, um die schweren Stachelfrüchte zu pflücken. Zwei kleine Mädchen überwanden ihre Scheu, zupften an Julies Hand und führten sie unter das Langhaus, wo an einem Ende ein Hühnerstall mit ein paar frisch geschlüpften Küken war. Ein Mädchen ergriff ein Küken und hielt es Julie zum Streicheln hin. In einem großen Bambuskäfig daneben saß ein junger Gockel mit glänzendem Gefieder, den Julie für einen Kampfhahn hielt.
Inzwischen war es Spätnachmittag geworden, und das abendliche Baderitual begann. Julie trug einen Badeanzug unter Shorts und T-Shirt, während Chitra in einem Sarong aus dem Langhaus kam. Die beiden folgten den anderen, allesamt in Sarongs gekleideten Frauen flussaufwärts, während die Männer die Gegenrichtung einschlugen.
Am Fluss angelangt, wuschen sich die Frauen unter fröhlichem Geplauder die langen, glänzenden Haare und tauchten von Kopf bis Fuß ins kühle Nass. Auch Chitra löste ihr dunkles Haar, sie schien sich im Wasser wie zu Hause zu fühlen. Julie ließ sich treiben und entfernte sich dabei ein Stück von den Frauen, bis sie eine Stimme rufen hörte und sich umschaute.
Am Ufer stand ein Mann mit langem, nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haar, dunklem honigfarbenem Teint und feinen Zügen. Er war also zweifellos ein Iban, doch mit seiner teuren Designer-Sonnenbrille, einer eleganten Uhr, einem hellblauen Safarihemd und elegant geschnittenen Shorts wirkte er hier fehl am Platze.
»Seien Sie vorsichtig, gleich da vorn sind scharfkantige Felsen, kurz vor dem Männerbadeplatz.«
»Danke!« Julie richtete sich auf, das Wasser umfloss ihre Knie. »Es war so erfrischend.«
Der Mann nickte und entfernte sich in Richtung Langhaus.
Als die Iban-Frauen sich mit ihren herumalbernden Kindern und den Babys auf dem Rücken auf den Heimweg machten, erkundigte sich Julie bei Chitra nach dem Mann.
»Gerade ist ein Boot heraufgekommen. Das wird Charles gewesen sein, Tuai James’ Sohn. Der Enkel des alten Stammesoberhaupts. Er arbeitet in Kuching bei der Polizei.«
Inzwischen war die erste Neugier auf die Besucher gestillt, und das Leben im Langhaus nahm wieder seinen gewohnten Gang. Das Abendessen wurde vorbereitet, und Kinder wurden gefüttert und getröstet. Julie kam es vor, als dürften die
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