Das Leuchten der Orchideen: Roman (German Edition)
Kinder machen, was sie wollten, ohne je geschimpft zu werden. Sie kletterten über die alten Leute, spielten mit den Hunden und rannten, vor Freude kreischend, die Tanju entlang. Bald allerdings merkte sie, dass die älteren Kinder auch ihre Pflichten hatten – sie mussten Wasser holen, Reiskörner verlesen und von Schalenresten befreien, Holz hacken, die Tiere füttern und lernen, wie man die Fischernetze reparierte.
»Gehen sie nicht zur Schule?«, fragte Julie Chitra.
Sie zuckte die Achseln. »Sie müssen nicht. Das Reisen ist beschwerlich, und die Kinder wohnen nicht gern getrennt von ihren Familien in der Stadt. Der alte Stammeshäuptling Jimbun will die alten Sitten bewahren, und weil sie hier so weit von jeder Stadt entfernt leben, geht das auch. Sein Sohn James hingegen setzt mehr auf Bildung, deshalb hat sein Sohn Charles auch einen so guten Job.«
»Kein Fernsehen, kein Radio, kein Internet – das hilft wahrscheinlich, abgeschottet von der Welt zu bleiben. Ich fühle mich wirklich privilegiert, dass ich das noch erleben darf«, sagte Julie.
David kam und setzte sich zu ihnen. »Ja, genieß es, solange es noch existiert, das wird nicht mehr lange sein. Die Geldwirtschaft rückt immer weiter vor. Zwar kultivieren die Iban Kautschuk und Pfeffer und verkaufen Webwaren, Blasrohre und Schnitzereien an Händler, aber die Selbstversorgung wird immer schwieriger. Außerdem haben sie eine Schwäche für moderne Dinge wie Außenbordmotoren und Kerosinlampen.«
Das Essen wurde auf gewebten Bodenmatten aufgetragen und bestand aus Schüsseln mit Reis, getrocknetem Fisch, Huhn und Wurzelgemüse sowie frischem Obst. Eine Wasserschüssel wurde herumgereicht, damit sich jeder die Hände waschen konnte, dann teilte man sich das Essen. Als die Dunkelheit anbrach, wurden Öllampen entzündet. Einige der jungen Mädchen mit Glasperlenketten knieten sich in ihren kurzen Wickelröcken hin und spielten auf verschiedenen kleinen Gongs Melodien.
Allmählich schliefen die Kinder ein, die Frauen im Hintergrund unterhielten sich leise, und der Tuak wurde erneut herausgebracht. David, der nahe bei Julie saß, sagte: »Trink einfach nur einen Schluck und gib mir den Rest. Diese Leute verstehen es zu feiern. Und zu tanzen!«
Inzwischen hatte Charles seine westliche Kleidung abgelegt und einen karierten Sarong umgewickelt. Er saß zwischen seinem Vater und seinem Großvater, und Matthew und David begannen ihm Fragen zu stellen.
Julie hörte mit halbem Ohr zu und beobachtete gleichzeitig, wie eine alte Frau eine jüngere in der Kunst des Pua-Webens unterrichtete, bei der komplizierte, von Generation zu Generation weitergegebene Muster in den Stoff eingearbeitet wurden. Matthew hatte ihr erzählt, dass in früheren Tagen jeder Mann einen Menschenkopf zum Fruchtbarkeitsritual mitbringen musste, jede Frau hingegen eine selbstgewebte Decke mit traditionellem Muster. Zum Glück sei die Sitte mit den Köpfen nicht mehr üblich, das Webritual habe aber überdauert.
Doch an diesem Abend unterhielt man sich über morgen. Und übermorgen. Und über die Tage, die folgen würden.
»Die Regierung hat einige Iban-Gemeinschaften umgesiedelt«, erzählte David. »Und offenbar ist mancher von ihnen durchaus angetan von den neuen Siedlungen und den modernen Langhäusern.«
Tuai James schüttelte den Kopf. »Das ist zwar richtig, aber sie haben kein eigenes Land mehr und können die Felder nicht mehr nach den alten Methoden bestellen. Die jüngeren Leute gehen fort zur Schule, und wenn sie zurückkommen, haben sie manchmal keinen Respekt mehr vor unseren alten Sitten. Außerdem stellen sie sich ungeschickt mit den Prauen an und wissen nur wenig vom Adat, unserem Gesetz.«
»Viertausend Menschen sind inzwischen umgesiedelt worden«, sagte David. »Zweifellos ist es auch für euch irgendwann so weit.«
Matthew sah Charles an. »Die Staudämme, nicht wahr? Das ist die größte Bedrohung?«
Julie wandte sich an Chitra. »Was meint er damit?«
Doch bevor die junge Dolmetscherin antworten konnte, stampfte der alte Tuai Rumah Jimbun mehrmals auf dem Boden auf und rief in gebrochenem Englisch: »Wir nicht gehen! Nie! Wir kämpfen wie Penans.«
»Aber auch die Penans haben ihr Land verloren! Ihre Wälder wurden gerodet, Schnellstraßen durchschneiden den Dschungel, und ihre Lebensweise existiert nicht mehr. Die Tiere sind ebenfalls verschwunden. Und die Politiker und ihre Freunde, die Anzugträger in den Städten, werden reich«, blaffte sein Sohn
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