Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
trinken, musste einigermaßen bei Kräften bleiben.
Allmählich sollte er
sich Gedanken machen, was er tun könnte, wenn Paul und Hassan bis zum Abend
nicht zurück wären. Sie hatten hier kein Pferd mehr. Er müsste zu Fuß über den
Berg und auf der anderen Seite wieder hinunter, zu der Wasserstelle, von der
Hassan berichtet hatte. Vielleicht war den beiden etwas passiert, und sie
konnten nicht zurück. Vielleicht waren sie verletzt. Aber dann könnten sie sich
doch auf ein Pferd oder ein Kamel setzten und reiten.
Ein schrecklicher
Gedanke schoss in seinen Kopf ... und wenn es da unten keine Wasserstelle gab?
Wenn sie auch vergiftet oder ausgetrocknet war und Hassan und Paul weiter zur
nächsten ziehen mussten? Wie lange würde es dann dauern, bis sie zurückkämen?
Hatte Paul denn vergessen, dass sie nur einen kleinen Wasservorrat
zurückgelassen hatten? Und dann drängte sich ein anderer fürchterlicher Gedanke
in seinen Kopf. Konnte Paul das beabsichtigt haben? Wollte er ihn, John, und
Emma leiden lassen? Wollte er sie bestrafen? Jesus Christus, betete er, bitte
bewahre mich vor solch bösen Gedanken.
Er setzte sich in den
Sand und schlug wieder die Bibel auf. Darin fand er Trost in seiner
Ratlosigkeit und Verzweiflung. Eine Stelle las er mehrmals: „Bittet, und
es wird euch gegeben werden. Suchet, und ihr werdet finden. Klopfet an, und es
wird auch aufgetan werden. Denn jeder, der bittet, empfängt, und wer sucht,
findet, und wer anklopft, dem wird aufgetan werden.“ In diesem
Augenblick blitzte ein Lichtstrahl unten in der Ebene auf. Er versuchte etwas
zu erkennen. Doch da war nichts. Nur dieselbe trockene Ebene, auf die er seit
zwei Tagen hinuntersah.
Die Sonne versank hinter
den Bergen. John hatte aus dem Kanister die letzten beiden Becher gefüllt. Er
hatte gehofft, es sei doch noch mehr Wasser darin, aber er war enttäuscht
worden. Emmas Zustand hatte sich nicht gebessert. Vor zwei Stunden hatte er sie
nach draußen getragen, ihr Kreislauf sollte in Bewegung kommen. Doch sie hatte
nur wieder mit leerem Blick in die Ferne gestarrt.
Er traf die Entscheidung
im Morgengrauen nach einer schlaflosen Nacht. Wie in der Nacht zuvor hielt er
ihre Hand. Und wenn er sie loslassen wollte, fasste ihre Hand seine noch
fester. Das graue Licht des Morgens ließ ihr blasses Gesicht noch fahler
erscheinen und entzog ihrem Haar jegliche Farbe. Das leuchtende Weizenblond war
aschgrau geworden, als ob Emma um Jahrzehnte gealtert wäre. „Emma“, flüsterte
er und beugte sich zu ihr hinunter. Ihre Augenlider zitterten und öffneten sich
schließlich. Der fiebrige Glanz war noch immer nicht aus ihren Augen
verschwunden. Er versuchte seine Stimme so ruhig und zuversichtlich klingen zu
lassen wie nur möglich.
„Wir brauchen unbedingt Wasser. Und ich muss nachsehen, ob
Paul und Hassan Hilfe brauchen. Ich gehe hinüber auf die andere Seite und hole
welches. Ihnen kann nichts passieren. Am Nachmittag bin ich wieder zurück.“ Er
lächelte aufmunternd. Auf ihrer Stirn bildeten sich Falten. Ihre Augen
flackerten plötzlich. „Ich beeile mich“, fügte er hinzu und lächelte immer
noch. Sie schluckte und ihr Blick wurde ängstlich. Er drückte ihre Hand und
berührte ganz behutsam ihre Wange. Sie sah ihn verwundert an. „Verzeihen Sie“,
murmelte er und schluckte. Doch er musste sie weiter ansehen. Da erst merkte
er, dass sie sich noch immer an den Händen hielten. Er konnte nicht anders, er
beugte sich zu ihr und berührte mit seinen Lippen ihre Stirn, und dann ... dann
ihren Mund. Er küsste sie ganz sanft. Wie sehr hatte er sich danach gesehnt ...
Ich liebe dich, dachte er, aber er wagte nicht, es auszusprechen. Ihre heiße
Hand umklammerte die seine.
„Ich bin schnell wieder
hier. Keine Angst. Ich komme wieder.“ Wenn ihr etwas geschehen würde, könnte er
sich das niemals verzeihen. „Herr, vergib mir“, betete er leise. Und zu Emma
sagte er: „Ich gehe jetzt los. Es wird alles gut werden. Gott ist mit uns.“ Mit
diesen Worten zog er seine Hand aus ihrer und kroch unter dem Wagen hervor in
den Morgen. Am Horizont leuchteten die
Wolken schon purpurn. Je eher er aufbräche, desto früher wäre er zurück.
Er wollte sich gerade
aufrichten, als er kaum zwei Schritte vor sich den Schatten einer Bewegung
wahrnahm. Er fuhr zusammen. Nein, er hatte sich nicht getäuscht: Dort, in der
Deckung eines niedrigen Buschs, schlängelte sich der schwarze, glänzende
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