Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
einen Gottesdienst halten
sollen“, meinte er. „Den kannst du doch morgen halten. Ich bin sicher, sie
werden alle kommen.“ „Aber diesmal haben sie ihr Fleisch vorher gegessen.“
Seine Mundwinkel zuckten. „Du darfst nicht so schlecht von ihnen denken.“ Sie
nahm seine Hand und lächelte ihn an. Er wusste ja nicht, dass er ohne Wirinun
vielleicht nicht mehr am Leben wäre. Doch sie hütete sich, ihm das zu sagen.
Den nächsten Morgen
empfand sie als den schönsten, den sie je erlebt hatte. Der Himmel war von
tiefstem Blau, und die Berge leuchteten in vollkommenem Purpur. Sanft wärmte
die Sonne die Luft, ein leichter Windhauch ließ die Palmen und die Blätter der
Eukalyptusbäume rauschen, und in der Mitte des Platzes erstrahlte die Kirche in
hellstem Weiß. Auch Paul war von diesem Anblick ergriffen, bemerkte Emma, als
er neben ihr auf der Türschwelle stand und ins Licht blinzelte. Vielleicht
liegt doch ein neuer Anfang vor uns, dachte sie, vielleicht heilt die Zeit die
Wunden ...
„Gehen wir zu ihnen“, sagte Paul und sah zu den Hütten. „Damit
sie Gottes Wunder sehen.“ Die beiden weißen Hunde bellten. Rauch stieg von
einem verloschenen Feuer auf. Die Menschen vor den Hütten schauten auf. Doch
irgendetwas beunruhigte Emma. Die Menschen kamen nicht auf sie zu oder winkten
oder ließen durch irgendeine Geste erkennen, dass sie sich über den Besuch
freuten, so wie sie es sonst jeden Morgen taten.
Vor der ersten Hütte blieb
Paul stehen. Emma empfand die Stille als unheilvoll. Was war nur geschehen?,
dachte sie, Was hat die Menschen so verändert? Alle schienen darauf zu warten,
dass etwas geschah. Sogar die Hunde bellten nicht mehr. „Gott hat uns
geheilt!“, brach Paul das Schweigen. „Wir wollen ihm danken. Kommt in sein Haus!“
Niemand regte sich. Emma musterte die verschlossenen Gesichter. John war
inzwischen gekommen und blieb hinter ihr stehen. Als sie sich zu ihm umdrehte,
sah er sie nicht an, und sie wandte sich wieder Paul zu. Sein Gesicht war immer
noch von der gerade überstandenen Krankheit gezeichnet. Er sah hager und
erschöpft aus. Sie wollte seine Hand ergreifen, doch sie spürte, dass dies
nicht der richtige Moment war. Etwas würde geschehen ...
Die Menschen bildeten in
feierlichem Schweigen eine Gasse, durch die in würdevoller Langsamkeit der
Älteste schritt. Er trug eine lange, an den Knien zerrissene Hose, doch sie
wirkte keineswegs schäbig an ihm. Sein Stirnband betonte die gewölbte,
zerfurchte Stirn, und der dichte weiße Bart ließ sein Gesicht noch dunkler erscheinen.
Die Haut seines Oberkörpers war mit Asche bestäubt und verlieh ihr einen
fremdartigen Schimmer. Vor Paul blieb er stehen und stieß seinen Speer mit dem
stumpfen Ende auf den Boden. Emma ahnte, dass der Älteste ihnen nichts Gutes
verkünden würde ...
„Wir waren besungen“, sagte der Älteste, „aber Wirinun hat den
bösen Zauber bekämpft.“ Wirinun tauchte hinter ihm auf. In seinem Stirnband
trug er die bunten Federn, doch diesmal überzogen weiße und rote Linien seinen
nackten Körper. Sein Gesicht war bemalt und unbeweglich wie eine Maske. Paul
räusperte sich und sagte: „Gott im Himmel hat uns gesund gemacht. Wir wollen zu
ihm beten!“ Er faltete die Hände. Niemand regte sich. Emma wurde unruhig. John
drängte sich neben sie, und als sie zu ihm blickte, bemerkte sie die Anspannung
in seinen Zügen.
„ Vater unser, der du bist im Himmel “, fing Paul an, als ließe er
sich nicht beirren, „ geheiligt werde dein
Name, dein Reich komme ... “ Da hob der Älteste den Speer und zog zwischen
sich und Paul eine Linie. Dann rammte er den Speer in den Boden. Paul
verstummte. Auf der roten Erde verlief nun eine Grenze. Paul hatte das Gebet beendet und
räusperte sich. „Wir wollen im Gottes Haus beten, um ihm zu danken.“ Ohne auf
eine Antwort zu warten, machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte über den
Platz zurück. Emma hastete hinter ihm her.
Kaum war die Haustür
hinter ihr zugefallen, fuhr Paul herum und schrie: „Was hast du ihnen gesagt,
als du ihnen das Schaf gegeben hast?“ „Paul, bitte“, flehte sie, „beruhige
dich. Du bist doch noch gar nicht richtig gesund ...“ „Ich will wissen, was du
ihnen gesagt hast? Hast du ihnen gesagt, Gott hat mich geheilt?“ Aus seinen Augen sprühte der Zorn. So etwas Ähnliches hatte
sie gesagt. „Aber warum wollen sie sich dann nicht bei ihm bedanken?“, fragte
er
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