Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
Sorge: John war nicht in Stuart angekommen.
12
John Wittling lehnte an
der Theke des „Stuart Arms“ und trank voller Erleichterung ein Bier. Der
Sandsturm hatte ihn zuerst aufgehalten und dann vom Weg abgebracht. Er hatte
sich verirrt, war glücklicherweise auf ein Wasserloch gestoßen und hatte sich
dann wieder am Verlauf der Berge orientieren können. Doch erst heute, fünf Tage
später als vorgesehen, war er in Stuart angekommen. Er strich sich über das
gescheitelte, frisch gewaschene Haar. Den Besuch bei den Shaws hatte er gerade
hinter sich gebracht. Ihre Einladung zum Lunch hatte er nicht abschlagen
können, obwohl es ihm lieber gewesen wäre, sich irgendwohin zu verkriechen, wo
ihn niemand kannte. Vor einer Stunde hatte er sich verabschiedet und war ins
Pub gegangen. Als es um sein Ausscheiden aus dem Missionsdienst gegangen war,
hatte er ausweichend geantwortet. Aber er hatte gedrängt, Hilfe nach Neumünster
zu schicken, da Emma dort warte. Mr. und Mrs. Shaw waren über die Ereignisse,
die er ihnen berichtete, bestürzt und hatten ihm aber dann mitgeteilt, dass der
Superintendent der Missionsgesellschaft schon nach Neumünster unterwegs sei. Da
war ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Emma wäre nicht mehr allein.
Emma ... Immer wieder tauchte sie in
seinen Gedanken auf. Im Sandsturm hatte er ihr Gesicht gesehen und ihre Stimme
gehört, und er hatte sich selbst verflucht, dass er nicht die Kraft gehabt
hatte, auf der Missionsstation zu bleiben. Er hatte versagt. In ihren Augen
musste er ein Schwächling sein. Ich bin es ja auch, dachte er. Er nahm einen
Schluck von seinem Bier und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Doch es
gelang ihm nicht. Er wusste noch nicht, was er tun würde. Das Land war groß
genug. Zuerst musste er fort von hier. Weit, weit fort ...
„Noch eins?“, fragte die
Wirtin freundlich. „Ja.“ Er schob ihr das leere Glas hin. Wie hatte er sich
seit Pauls Beerdigung gequält! Waren die letzten zwanzig Jahre seines Lebens
wirklich ein Irrtum gewesen? Hatte er sich die ganze Zeit nur etwas vorgemacht?
Warum konnte er nicht vergeben? Er hatte alle Menschen in seiner Umgebung
enttäuscht. Seufzend griff er zu dem frisch gefüllten Glas. Die Schwingtür
öffnete sich, und John sah auf. Ein hoch gewachsener Mann mit Hut kam herein.
Er kannte ihn, und er legte keinen Wert darauf, ihm wieder zu begegnen: Robert
Gordon.
Mit ausgreifenden
Schritten kam er auf die Theke zu. Auch er schien nicht sonderlich erfreut zu
sein, John Wittling zu begegnen. Dennoch verzog er das sonnengegerbte Gesicht
zu einem Lächeln. Er sah erschöpft aus. Bestimmt hatte er sich tagelang nicht
rasiert und auch die Kleider nicht gewechselt.
„Hallo, Mister Wittling!“ Der Fotograf, der fast einen Kopf
größer war als er, stellte sich neben ihn an die Theke. Um seinen Hals hing ein
verschwitztes rotes Tuch. „Was machen Sie hier? Urlaub?“ Er grinste, doch John
wollte sich nicht provozieren lassen und sagte nüchtern: „Ich wusste gar nicht,
dass Sie noch in der Gegend sind.“ „Ich hatte was zu erledigen. Wie geht’s
Pastor Schott?“, Das höfliche Lächeln auf Johns Gesicht gefror. „Pastor Schott
ist verstorben“, sagte er tonlos. „Was? Und wo, wo ist Emma? Ist sie hier?“
Robert Gordon sah sich um. „Wo ist sie?“, fragte er schroff. „Sie ist in
Neumünster geblieben.“ John konnte sich nicht zurückhalten und fügte bitter
hinzu: „Warum fahren Sie nicht gleich hin?“ „Was?“ Einen Augenblick lang
glaubte John, Robert Gordon wollte ihn am Kragen seines weißen Hemdes packen
und schütteln. Doch er tat nichts dergleichen, sondern bestellte ein Bier und
starrte nachdenklich auf das Gläserregal hinter der Theke. „Es ist schon jemand
unterwegs zu ihr“, sagte John und fühlte sich plötzlich noch schuldiger. Wie
hatte er Emma nur allein lassen können! Aber ... was hätte er sonst tun sollen?
Robert Gordon stürzte
sein Bier hinunter und wischte sich mit dem Ärmel seines karierten Hemds über
den Mund. Er schien nachzudenken. Was für eine unmögliche Situation, dachte
John und erinnerte sich an die Nacht, als Emma und Robert auf der Veranda
gesessen hatten. Ob Robert Gordon wusste, dass Emma auch ihm viel bedeutete?
„Dann sind Sie sozusagen schon auf dem Rückweg nach Neumünster?“, fragte Robert
Gordon nach einer Weile.
John überdachte diese
Möglichkeit. Doch dann verwarf er sie. Emma liebte ihn nicht; kalt und
Weitere Kostenlose Bücher