Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
Erklärung, doch dann
merkte sie, dass er sich wegdrehte. „Wir müssen schlafen“, sagte er, „du musst
dich ausruhen. Vor uns liegt eine lange, beschwerliche Reise.“ Bald darauf
hörte sie sein leises Schnarchen. Sie hingegen lag wach da, starrte in die
undurchdringliche Dunkelheit des Zimmers und fror. Es war ihr unheimlich, dass
Paul so redete. Als wäre er überzeugt, dass ihnen ein Unheil drohte.
4
„Wir behalten sie im
Auge“, sagte der Älteste, während er ins Feuer starrte. „Es ist schon zu viel
geschehen.“ Jalyuri nickte und sah zu One Leg hinüber, der seinen Stumpf
massierte. Vor Jahren hatte ihn eine Schlange in sein rechtes Bein gebissen.
Nach Tagen im Todeskampf war das Bein immer dünner geworden und schließlich,
zur Überraschung aller, abgefallen -, und One Leg, der vorher Wundurra, der
Krieger, geheißen hatte, wurde wieder gesund. Von diesem Tag an wurde er nur
noch One Leg genannt, nach einem Wort aus der Sprache der Weißen. Auf zwei
Stöcke gestützt, humpelte er auf den langen Wanderungen des Stammes mit, und
wenn er auch nicht mehr so jagen konnte wie früher, war er doch ein exzellenter
Fährtenleser.
Das Feuer knisterte,
aber Fleisch hatten sie keines, um es darin zu braten. Die Frauen hatten Bush
Tucker gefunden, doch die Wurzeln und Beeren waren schon längst aufgegessen,
und noch immer knurrten die Mägen. Jalyuri sah zu Isi, seiner ersten Frau, die
trotz der kärglichen Nahrung Stärke ausstrahlte. Neben ihr lag Jungala und
schlief. Isis Brüste waren klein und fest, und auf ihrem Gesicht stand oft ein
Lächeln. Mani, seine zweite, jüngere Frau, hockte Isi gegenüber. Sie war
kleiner und schmächtiger, und manchmal dachte Jalyuri, sie ist noch ein Kind.
Ihr ging es nicht gut. Ihre Wangen waren eingefallen, ihre großen Augen blicken
sorgenvoll und ängstlich, aber ihr Bauch wuchs, und manchmal fürchtete er, dass
sie zu schwach sei für das Kind. Jalyuri warf einen Blick auf Nooma-Nooma, der
sich unablässig den schwarzen Bart kraulte. Wenn er nichts zu essen hatte, war
er schweigsam, und auch Wirinun, der Medizinmann, hatte den ganzen Abend nichts
gesagt. Seine sonst so eisigen Augen waren seit zwei Tagen seltsam glasig.
Auf einmal hob Wirinun
zur Überraschung aller den Kopf und sagte mit seiner krächzenden Stimme: „Sie
werden die Ruhe der Regenbogenschlange stören.“ Dann stand er auf und
verschwand in der hereinbrechenden Dämmerung. Niemand wagte zu sprechen. Aber
alle wussten, was das bedeutete: Wenn die Regenbogenschlange gestört würde,
würde Unheil geschehen. Und alle wussten, dass sie das nicht zulassen durften.
„Wir werden sie im Auge behalten“, sagte der Älteste in die Stille hinein und
sah Jalyuri an. Ja, morgen würde er wieder losziehen, zu den Goldgräbern.
5
Die ganze Nacht über war
es Emma nicht richtig warm geworden, und als sie am Morgen aufstand, hatte sie
das Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben. Sie nahmen das Frühstück
draußen ein, um dem Gestank des Hauses zu entkommen. Die Luft war kalt und
feucht, und der Himmel über ihnen zeigte ein tiefes Königsblau, vor dem sich
die Flinders-Bergkette scharf abhob. Paul hatte fest und tief geschlafen,
verspeiste ein reichhaltiges Frühstück aus Eiern und Speck und betrachtete in
stiller Bewunderung die Landschaft. Emma beobachtete, wie ein gertenschlanker,
hoch aufgeschossener und etwas seitwärts geneigter Herr im hellbraunen
Tropenanzug auf sie zukam. Bei jedem Schritt knickte er seitlich ein, als habe
er ein zu kurzes Bein oder als sei er an der Wirbelsäule verletzt. Er nahm
seinen Hut ab und verbeugte sich. „Gestatten: Carl Gustavsson“, sagte er in
einem sperrig klingenden Deutsch. Er mochte so alt sein wie Paul. „Ich bin im
Auftrag der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften unterwegs und
werde in Marree auf eine Expedition zur Erforschung von Bodenschätzen treffen“,
erklärte er und rieb sich in der morgendlichen Kälte die Hände. Paul bot ihm
an, bei ihnen am Tisch Platz zu nehmen. Sehr erfreut und ohne Zögern schob der
Wissenschaftler einen Holzstuhl zu ihnen und setzte sich. Auch im Sitzen
behielt er seine schiefe Haltung bei. Vielleicht hatte er etwas mit der
Wirbelsäule, dachte Emma und nahm einen Schluck Tee. „Ich untersuche die
Lebensgewohnheiten primitiver Völker“, erläuterte Gustavsson, hob eine Tasse
aus dünnem Porzellan, an der der Henkel abgebrochen war, unter
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