Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
benetzte seine Füße, um sich für das Gebet zu reinigen. Dilawar, Mirwais und die anderen Männer kamen hinzu, und da der Fluss eine halbe Stunde Fußweg entfernt war und nur ein Eimer Wasser zur Verfügung stand, deuteten manche die Waschung nur an, aber Gott erkannte ihre gute Absicht.
Sie beteten, Martens sah die Löcher in ihren Socken, die Socken waren die einzigen Kleidungsstücke, in denen sie Löcher tolerierten. Wenn sie sich das Hemd oder die Hose aufrissen, flickten sie sie abends mit Nähnadeln so gut es ging.
Als Martens die Männer beim Beten beobachtete, dachte er, du irrst dich. Diese Männer waren nicht die Letzten Mohikaner, als die er sie betrachtete, die Letzten ihrer Art, die einen aussichtslosen Kampf führten. Wenn sie sich mit ihren Patronengurten ausstaffierten und die einzige Bazooka, die sie besaßen, ins Zentrum rückten, wenn sie mit geputzten Gewehren in ein Dorf stolzierten und die Hühner verscheuchten, sahen sie zwar aus wie das letzte Aufgebot der Apachen unter ihrem Anführer Geronimo, fotografiert 1886 in den Sierra Madre Mountains. Die nordamerikanischen Indianer hatten Martens in seiner Kindheit fasziniert, und manchmal standen sie jetzt lebendig vor ihm, eine Schar aus dem Stamm der Paschtunen, geführt von ihrem Kriegshäuptling Dilawar und dem Schamanen Omar. Sie verschanzten sich in den unzugänglichen Bergen Badakhshans, in denen die Welt stillstand, während sie sich außerhalb dieser Berge immer schneller drehte, und gar nicht mehr nur in Amerika, sondern auch in China, in Indien, in Ländern, von denen diese Männer nur eine vage Vorstellung hatten. Man hätte denken können, dass sie Aussterbende waren und nur noch in Verstecken ihre Lebensweise beibehalten konnten, die überall außerhalb dieser Berge nicht mehr als zeitgemäß empfunden wurde. Aber vielleicht, dachte Martens beim Anblick der betenden Mudschaheddin, sind sie nicht die Letzten einer alten Zeit, sondern die Ersten einer neuen. Es war durchaus möglich, dass in fünfzig, siebzig Jahren Männer wie sie in Städten wie Paris, London und Berlin regierten, mit der Hand auf dem Koran und die Gesetze der Scharia vollziehend. Es war vielleicht unwahrscheinlich in New York, Delhi oder Peking, aber nicht in den europäischen Städten – man musste sich nur die demografischen Daten ansehen und die Möglichkeit einberechnen, dass unter der dereinst muslimischen Bevölkerungsmehrheit eine radikale Gruppe die Oberhand gewann. Scharia bedeutete wörtlich Weg zur Wasserquelle, und diese Männer beschritten den Weg dorthin rückwärts durch tiefste Vergangenheit gehend. Aber die Zukunft stand manchmal auch denen offen, die sie über die Vergangenheit erreichten.
Die Straße
Zeiten später kamen sie zu einer Straße, die dem Flusslauf folgte. Es war eine asphaltierte Straße, und Martens, der seit zwei Monaten nur Pfade gesehen hatte, fühlte den Atem der Zivilisation, der nach Dieselruß roch. Ein köstlicher Duft, der in ihm die Sehnsucht weckte, endlich den Lagerfeuern zu entfliehen, den kalten Nächten unter Sternen, endlich wieder einmal Fisch essen, mit Gabel und Messer an einem Tisch. Tische! Tische und Toiletten! Stühle! Diese Straße roch nach Tischen und Stühlen und nach einer würdevollen Verrichtung der Notdurft, nicht bei Regen in Büschen mit der Hand als Papier, und nicht mehr aus Schüsseln essen mit dieser Hand und dabei von anderen Händen berührt werden, diese von Händen wimmelnden Schüsseln – er wollte endlich wieder allein essen, von einem Teller, der nur ihm gehörte. Er wollte duschen, denn er stank. Er verstand nicht, weshalb die anderen nicht auch stanken, sie kamen mit Wasser genauso selten in Berührung wie er. Diese Straße zeigte Martens, wo er hingehörte: Er gehörte in die Stadt, zu der die Straße führte, und er gehörte in einen Hubschrauber der Bundeswehr oder einer Hilfsorganisation, Rotes Kreuz, USAID , wer auch immer, ein Hubschrauber, der ihn zum nächsten Flughafen flog. Er sah die ganze Rückreisekette vor sich: Flughafen Mazar, Transall nach Termez, Airbus zurück nach Köln. Und in Köln als Erstes warm duschen, in der Hotelzimmerdusche eins der kleinen Fläschchen mit Shampoo über dem Kopf ausdrücken, sich mit Hotelduschgel einreiben, bis es schäumte, und dann die Badewanne volllaufen lassen, das Hotelshampoo und die Bodylotion ins Badewasser schütten, und wenn die Fläschchen leer waren, beim Housekeeping ein Dutzend weitere bestellen – Hier Zimmer 209, ich
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