Das Lied der Dunkelheit
tatenlos zusehen, wie Keerin davonstolzierte und sofort die Aufmerksamkeit der Menge fesselte, indem er nach seiner Laute griff und rasch das nächste Lied anstimmte.
»Warum kannst du deine Klappe nicht halten?«, knurrte ein stämmiger Lehrling. Arlen reichte ihm höchstens bis an die Schulter, und sämtliche Burschen, die sie umzingelten, waren älter als er und Jaik.
»Keerin lügt«, betonte Arlen.
»Und er ist ein Arschloch«, legte der Lehrling nach und hielt den Hut mit den Münzen hoch. »Denkst du, das interessiert mich?«
Jaik versuchte zu schlichten. »Es gibt keinen Grund, gleich wütend zu werden«, wandte er ein. »Mein Freund hier hat es nicht so gemeint …«
Ehe er den Satz beenden konnte, stürmte Arlen vor und rammte dem größeren Jungen die Faust in die Magengrube. Als der Bursche sich stöhnend am Boden wälzte, wirbelte Arlen herum und stellte sich den übrigen Lehrlingen. Ein paar Nasen schlug er blutig, doch er wurde rasch überwältigt und nach Strich und Faden verprügelt. Verschwommen bekam er mit, dass auch auf Jaik Hiebe niederprasselten, bis zwei Wächter auftauchten und dem Kampf ein Ende setzten.
»Weißt du was?«, nuschelte Jaik, als sie blutend und voller blauer Flecken nach Hause humpelten, »für einen Bücherwurm kannst du dich in einer Rauferei ganz gut behaupten. Aber du solltest besser darauf achten, mit welchen Gegnern du dich anlegst …«
»Ich habe schon schlimmere Gegner gesehen«, erwiderte Arlen und dachte an den einarmigen Dämon, der ihm immer noch nachstellte.
»Das Lied war noch nicht einmal gut«, erzählte Arlen. »Wie konnte er im Dunkeln Siegel zeichnen?«
»Das Lied war immerhin so gut, dass darüber eine Prügelei ausgebrochen ist«, bemerkte Cob, der dabei war, Arlen das Blut vom Gesicht zu tupfen.
»Er hat gelogen!«, wiederholte Arlen.
Cob zuckte die Achseln. »Keerin hat nur das getan, was alle Jongleure machen. Diese Leute verdienen sich ihren Lebensunterhalt damit, dass sie spannende Geschichten erfinden.«
»In Tibbets Bach strömte die ganze Stadt zusammen, wenn ein Jongleur auftrat«, erklärte Arlen. »Selia sagt, sie kennen die Geschichten über die alte Welt und geben sie von einer Generation an die nächste weiter.«
»Das ist richtig«, nickte Cob. »Aber selbst die besten Jongleure übertreiben, Arlen. Oder glaubst du wirklich, dass der erste Erlöser mit einem einzigen Streich hundert Felsendämonen tötete?«
»Früher habe ich das geglaubt«, gab Arlen seufzend zu. »Jetzt weiß ich nicht, was ich überhaupt noch glauben soll.«
»Das bedeutet, dass du erwachsen wirst, Arlen«, meinte Cob. »Für alle Kinder kommt einmal der Tag, an dem sie feststellen, dass Erwachsene genauso schwach sein können wie sie selbst, dass sie nicht immer Recht haben und mitunter grobe Fehler machen. Danach ist man erwachsen, ob es einem gefällt oder nicht.«
»So habe ich das noch nie gesehen«, bekannte Arlen und vergegenwärtigte sich, dass er diesen Tag schon vor langer Zeit erlebt hatte. In Gedanken sah er Jeph, der sich hinter den Siegeln auf ihrer Veranda versteckte, während Horclinge seine Mutter angriffen.
»Fuchst es dich wirklich so sehr, dass Keerin gelogen hat?«, fragte Cob. »Sein Lied macht die Leute glücklich. Es gibt ihnen Hoffnung. Freude und Zuversicht sind dieser Tage selten geworden und werden doch so dringend gebraucht.«
»Mit Ehrlichkeit hätte er genau dasselbe bewirkt«, widersprach Arlen. »Stattdessen schmückt er sich mit fremden Federn, nur um mehr Geld einzuheimsen.«
»Was stört dich mehr, seine Lüge oder sein Profit?«, wollte Cob wissen. »Spielt es eine Rolle, wie viel er verdient? Ist nicht die Botschaft, die in seinem Lied steckt, das Wichtigste?«
»Die Menschen brauchen mehr als nur ein Lied«, fand Arlen. »Sie brauchen den Beweis, dass Horclinge bluten können.«
»Du klingst schon wie ein Krasianischer Märtyrer«, erwiderte Cob, »bereit, dein Leben zu opfern, um dann in der nächsten Welt einen Platz im Paradies des Schöpfers zu erringen.«
»Ich habe gelesen, dass sie sich ihr Leben nach dem Tode wunderschön vorstellen, mit nackten Frauen und Flüssen, in denen Wein fließt.« Arlen grinste.
»Und um in diese paradiesischen Gefilde Einzug zu halten, braucht man nichts weiter zu tun, als einen Dämon zu töten, bevor man selbst niedergemetzelt wird«, steuerte Cob bei. »Trotzdem klammere ich mich an mein derzeitiges Leben. Der Tod findet dich so oder so, du kannst nicht vor ihm
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