Das Lied der Dunkelheit
schönen, verschnörkelten Buchstaben, schrieb er nun voller Ehrfurcht »Anochs Sonne« unter die Liste der Ruinen, die er gesehen hatte. Kein anderer Kurier, der seine Leistungen in der Oase veröffentlichte, konnte damit prahlen, und der Erste zu sein, der diesen uralten Ort erkundet hatte, erfüllte ihn mit Stolz.
Am nächsten Tag fuhr Arlen damit fort, das Proviantlager der Oase aufzustocken. Für die Kuriere war es eine Frage der Ehre, die Oase mit mehr Vorräten zu verlassen, als sie vorgefunden hatten; es war eine Vorsichtsmaßnahme, falls einer von ihnen einmal hier eintraf und zu entkräftet, verletzt oder von einem Sonnenstich heimgesucht war, um sich selbst Lebensmittel zu besorgen.
In der darauf folgenden Nacht verfasste er einen Brief an Cob. Er hatte schon viele geschrieben, doch alle steckten noch
in seiner Satteltasche, weil sie niemals abgeschickt worden waren. Es schien, als fände er nie die passenden Worte, um wiedergutzumachen, dass er seine Lehre einfach abgebrochen und seine Pflichten vernachlässigt hatte, doch diese Neuigkeit war so großartig, dass er sie Cob unbedingt mitteilen musste. Die Symbole auf der Speerspitze zeichnete er haargenau ab, denn er ging fest davon aus, dass Cob dieses Wissen sofort an jeden Bannzeichner in Miln weitergeben würde.
Früh am nächsten Morgen verließ er die Oase in Richtung Südwesten. Fünf Tage lang sah er kaum etwas anderes als gelbe Dünen und Sanddämonen, doch am Vormittag des sechsten Tages kam Fort Krasia in Sicht, die Stadt, die den Beinamen »der Wüstenspeer« trug. Eingerahmt von den dahinter aufragenden Bergen tauchte sie am Horizont auf.
Aus der Ferne war sie kaum von den anderen Dünen zu unterscheiden, da die sie umgebende Mauer aus Sandstein mit der Umgebung zu verschmelzen schien. Die Siedlung war um eine Oase errichtet worden, die viel größer war als die Oase der Morgendämmerung, und wenn man den uralten Karten trauen durfte, wurde sie von demselben unterirdischen Fluss gespeist. Die Mauer mit den tief eingemeißelten Siegeln reckte sich stolz dem Himmel entgegen. Hoch über der Stadt flatterte Krasias Banner, das zwei überkreuzte Speere über einer aufgehenden Sonne zeigte.
Die Wachen am Tor trugen die schwarzen Gewänder der dal’Sharum , der Krasianischen Kriegerkaste, und die Gesichter waren verhüllt, um sich gegen den gnadenlosen Flugsand zu schützen. Die Krasianer waren zwar nicht so groß gewachsen wie die Milneser, doch sie überragten die meisten Angieraner oder Laktonianer immer noch um mindestens einen Kopf; ihre Statur war drahtig, aber muskulös. Im Vorbeireiten nickte Arlen den Männern zu.
Als Antwort hoben sie ihre Speere. Unter Krasianischen Männern galt diese Geste als die geringste Höflichkeit, die man jemandem erweisen konnte, aber Arlen hatte sich sehr anstrengen müssen, um sich zumindest diese knappe Anerkennung zu verdienen. In Krasia wurde die Bedeutung eines Mannes nach der Anzahl seiner Narben beurteilt, und wie viele alagai - Horclinge - er getötet hatte. Fremde, oder chin , wie die Krasianer sämtliche Menschen von außerhalb nannten, sogar die Kuriere, betrachtete man als Feiglinge, die den Kampf gegen die Dämonen aufgegeben hatten und es nicht wert waren, von den dal’Sharum höflich behandelt zu werden. Der Ausdruck chin galt als Beleidigung.
Aber mit seiner Bitte, an ihrer Seite kämpfen zu dürfen, hatte Arlen die Krasianer verblüfft, und nachdem er den Kriegern das Anfertigen neuer Siegel beigebracht und oftmals geholfen hatte, Horclinge zu töten, bezeichneten sie ihn nun als Par’chin , was »tapferer Fremder« bedeutete. Als ebenbürtig würde man ihn nie betrachten, aber die dal’Sharum hörten auf, vor ihm auszuspucken, und er hatte sogar ein paar gute Freunde gewonnen.
Durch das Tor gelangte Arlen in das sogenannte Labyrinth, einen großen Innenhof vor der eigentlichen Stadtmauer, der aus lauter Wällen, Gräben und Kuhlen bestand. Jede Nacht sperrten die dal’Sharum ihre Familien sicher hinter der inneren Stadtmauer ein und zogen dann selbst in den alagai’sharak , den Heiligen Krieg gegen die Dämonen. Sie lockten Horclinge ins Labyrinth, lauerten ihnen aus dem Hinterhalt auf und hetzten sie in mit Siegeln versehene Gruben, um auf den Sonnenaufgang zu warten. Viele Männer verloren bei diesen Treibjagden ihr Leben, aber die Krasianer glaubten, wenn sie im alagai’sharak starben, sei ihnen ein Platz an der Seite Everams, des Schöpfers, gewiss, und sie begaben sich
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