Das Lied der Dunkelheit
zu bewahren. Aber sie können es nicht, weil die Großen Siegel verloren gingen. Deshalb kauern sie sich wie in Käfige eingesperrte Hasen zusammen und verstecken sich voller Angst die ganze Nacht über. Manchmal jedoch, besonders wenn jemand mitansehen musste, wie geliebte Menschen sterben, wird die Anspannung zu viel und die Person dreht einfach durch.«
Er legte eine Hand auf Arlens Schulter. »Es tut mir leid, dass du so etwas Furchtbares miterleben musstest, Junge. Ich weiß, es ergibt für dich noch keinen Sinn …«
»Oh doch«, widersprach Arlen. »Ich verstehe sehr gut, was du meinst.«
Tatsächlich erkannte Arlen in diesem Moment, dass es notwendig war zu kämpfen. Als er damals Cobie und dessen Kumpane angegriffen hatte, hatte er gar nicht erwartet, sie zu besiegen. Vielmehr hatte er damit gerechnet, von der Bande fürchterlich zusammengeschlagen zu werden. Aber in dem Moment,
als er nach dem Knüppel griff, war ihm das einerlei gewesen. Er wusste nur, dass er es leid war, sich ständig von diesen Rüpeln schikanieren zu lassen, und er wollte diese Situation beenden, egal wie.
Es war tröstlich zu wissen, dass er mit seiner Einstellung nicht allein dastand.
Arlen blickte auf seinen Onkel, der im Staub lag, die Augen vor Furcht weit aufgerissen. Er kniete nieder, streckte eine Hand aus und drückte die Lider mit den Fingerspitzen zu. Cholie brauchte vor nichts mehr Angst zu haben.
»Hast du schon mal einen Horcling getötet?«, fragte er den Kurier.
»Nein.« Ragen schüttelte den Kopf. »Aber mit etlichen habe ich gekämpft. Meine Narben beweisen es. Aber ich war immer mehr darauf aus, mich zu verteidigen oder die Dämonen von anderen Leuten fernzuhalten, als einen von ihnen umzubringen.«
Arlen dachte darüber nach, als sie Cholie in eine Plane wickelten, ihn auf die Ladefläche des Karrens hoben und dann schleunigst zum Weiler der Holzfäller zurückfuhren. Jeph und Silvy hatten ihr Fuhrwerk bereits bepackt und warteten ungeduldig auf Arlen, damit sie endlich aufbrechen konnten. Doch beim Anblick des Leichnams verflog ihr Ärger über Arlens späte Rückkehr.
Silvy fing an zu weinen und warf sich über ihren toten Bruder, doch sie durften keine Zeit verlieren, wenn sie ihren Hof noch vor Einbruch der Nacht erreichen wollten. Jeph musste Silvy festhalten, als der Fürsorger Harral ein Schutzzeichen auf die Persenning malte und ein Gebet anstimmte, ehe er Cholie auf den Scheiterhaufen legte.
Die Überlebenden, die nicht im Haus von Brine Holzfäller übernachteten, wurden aufgeteilt und von den anderen mit
nach Hause genommen. Jeph und Silvy hatten zwei Frauen ihre Hilfe angeboten. Norine Holzfäller war über fünfzig Sommer alt. Ihr Mann war vor ein paar Jahren gestorben, und bei dem Angriff hatte sie ihre Tochter und den Enkelsohn verloren. Marea Strohballen war auch schon alt, beinahe vierzig. Ihr Mann hatte draußen bleiben müssen, als die anderen ausgelost hatten, wer in den Schutzkeller durfte. Silvy und die beiden Frauen hockten in sich zusammengesunken hinten auf Jephs Karren und starrten ihre Knie an. Arlen winkte Ragen zum Abschied zu, als sein Vater die Peitsche knallen ließ.
Der Weiler am Waldrand entzog sich bereits seinen Blicken, als Arlen einfiel, dass er niemandem erzählt hatte, dass der Jongleur demnächst eine Vorstellung geben würde.
2
Wenn es dich treffen würde
319 NR
D ie Zeit reichte gerade noch, um den Karren in Sicherheit zu bringen und die Siegel zu prüfen, ehe die Horclinge kamen. Silvy fehlte die Kraft, um eine ordentliche Mahlzeit zu kochen, deshalb begnügten sie sich mit einem kalten Imbiss aus Brot, Käse und Wurst, den sie ohne Appetit verzehrten. Gleich nach Sonnenuntergang stellten sich die ersten Dämonen ein, um die Siegel zu testen, und jedes Mal, wenn die Magie in einer Stichflamme aufflackerte und die Horclinge zurückwarf, stieß Norine einen schrillen Schrei aus.
Marea rührte ihr Essen nicht einmal an. Sie kauerte auf ihrer Schlafstatt, die Arme fest um die Beine geschlungen, wiegte sich vor und zurück und gab bei jedem Aufflammen der Magie ein jämmerliches Wimmern von sich. Silvy räumte die Teller ab, aber sie kam aus der Küche nicht zurück, und Arlen konnte sie weinen hören.
Er wollte zu ihr gehen, um sie zu trösten, aber Jeph packte ihn beim Arm und hielt ihn fest. »Komm mit mir, Arlen, ich muss mit dir reden«, begann er.
Sie gingen in die kleine Kammer, in der Arlen untergebracht war; hier befanden sich sein Bett,
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