Das Lied der Dunkelheit
Weile, während sie ihn beobachtete. Rojer, dem nicht entging, wie fasziniert sie war, rutschte nervös auf seinem Platz hin und her.
»Hast du mein Heimatdorf gesehen?«, fragte sie leise.
Der Tätowierte Mann musterte sie neugierig, erwiderte jedoch nichts.
»Wenn du von Süden gekommen bist, dann musst du doch durch das Tal der Holzfäller geritten sein«, fuhr sie fort.
Der Tätowierte Mann schüttelte den Kopf. »Um Ansiedlungen mache ich einen weiten Bogen. Der Erste, der mich sieht, rennt weg, und bald darauf begegnet mir eine Schar wütender Männer mit Mistgabeln.«
Leesha wollte protestieren, aber sie wusste, dass die Einwohner ihres Dorfes genauso handeln würden. »Sie haben einfach nur Angst«, entgegnete sie.
»Das weiß ich«, nickte der Tätowierte Mann. »Deshalb lasse ich sie in Frieden. Es gibt noch mehr auf der Welt als Dörfer und Städte, und wenn man sich erst einmal für etwas entschieden hat, verliert man gleichzeitig etwas anderes …« Er zuckte
die Achseln. »Sollen die Menschen sich ruhig in ihren Häusern verstecken, eingesperrt wie die Hühner. Feiglinge verdienen nichts Besseres.«
»Warum hast du uns dann vor den Dämonen gerettet?«, warf Rojer ein.
Abermals zuckte der Tätowierte Mann mit den Schultern. »Weil ihr Menschen seid, und sie sind Scheusale. Und weil ihr bis zur letzten Minute um euer Leben gekämpft habt.«
»Was hätten wir denn sonst tun sollen?«, fragte Rojer.
»Ihr würdet euch wundern, wie viele Menschen sich einfach hinlegen und auf das Ende warten«, erwiderte der Tätowierte Mann.
Am vierten Tag nach ihrer Abreise von Angiers legten sie eine große Strecke zurück. Weder der Tätowierte Mann noch sein Hengst schienen jemals zu ermüden. Beide trabten mit gleichmäßigen, raumgreifenden Schritten nebeneinander her.
Als sie endlich das Nachtlager aufschlugen, kochte Leesha aus den restlichen Vorräten des Mannes eine dünne Suppe, doch davon wurden sie kaum satt. »Wie kommen wir an neuen Proviant?«, fragte sie, als Rojer seinen letzten Löffel Suppe heruntergeschluckt hatte.
Der Tätowierte Mann hob und senkte die Schulter. »Ich hatte nicht mit Begleitern gerechnet«, erwiderte er, während er sich zurücklehnte und mit großer Sorgfalt Siegel auf seine Fingernägel malte.
»Ohne etwas im Bauch sollen wir die nächsten zwei Tage reiten?«, lamentierte Rojer.
»Wenn du die Reisedauer halbieren möchtest, können wir auch bei Nacht unterwegs sein«, schlug der Mann vor und pustete
dann auf seine Nägel, damit die Farbe trocknete. »Schattentänzer ist schneller als die meisten Horclinge, und den Rest werde ich einfach töten.«
»Das wäre viel zu gefährlich«, lehnte Leesha ab. »Wir tun meinem Dorf keinen Gefallen, wenn wir uns alle umbringen lassen. Dann reisen wir eben mit leerem Magen.«
»Während der Nacht bleibe ich nur in einem Zirkel«, stimmte Rojer ihr zu und rieb sich bedauernd den Bauch.
Der Tätowierte Mann zeigte auf einen Horcling, der um das Lager pirschte. »Wir könnten den da essen«, meinte er.
»Das kann doch nicht dein Ernst sein!«, rief Rojer angewidert.
»Beim bloßen Gedanken daran wird mir übel«, ergänzte Leesha.
»So schlecht schmecken sie eigentlich gar nicht«, entgegnete der Mann.
»Hast du tatsächlich einen Dämon gegessen?«, staunte Rojer.
»Um zu überleben, tue ich alles.«
»Nun ja, ich werde ganz bestimmt kein Dämonenfleisch essen«, betonte Leesha.
»Ich auch nicht!«, schloss Rojer sich an.
»Na schön«, seufzte der Tätowierte Mann. Er stand auf und griff nach seinem Bogen, dem Köcher mit Pfeilen und einem langen Speer. Mit einer fließenden Bewegung entledigte er sich seines Gewandes und enthüllte seinen mit Siegeln bedeckten Körper. Langsam trat er an den Rand des Zirkels. »Mal sehen, was ich erlegen kann.«
»Das ist doch nicht nötig …!«, rief Leesha, aber der Mann beachtete sie nicht. Im nächsten Moment war er in der Nacht verschwunden.
Es dauerte über eine Stunde, bis er zurückkehrte; in einer Hand trug er zwei fette Kaninchen. Er reichte Leesha die Beute,
kehrte an seinen Platz zurück und nahm wieder den winzigen Pinsel aus einem Kästchen.
»Du kannst musizieren?«, fragte er Rojer, der gerade damit fertig war, neue Saiten auf seine Fiedel zu spannen und nun daran zupfte, um sie richtig zu stimmen.
Bei der Frage zuckte Rojer zusammen. »J-ja«, stotterte er.
»Könntest du mir etwas vorspielen?«, fragte der Tätowierte Mann. »Ich weiß nicht mehr, wann ich das
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