Das Lied der Dunkelheit
flach auf den Boden und zeigte nach unten.
»Sieh mal dort hin«, forderte er Rojer auf. Unten entdeckte Rojer drei Männer, die ihm nur allzu vertraut vorkamen, und ein Pferd; sie schliefen innerhalb eines Kurierzirkels, den er sogar noch besser kannte.
»Die Banditen«, hauchte Rojer. Ein Schwall von Gefühlen übermannte ihn - Angst, Wut und Hilflosigkeit -, und in seiner Erinnerung durchlebte er noch einmal die Qualen, die sie ihm und Leesha angetan hatten. Der Stumme rührte sich im Schlaf, und Rojer spürte einen Anflug von Panik.
»Seit ich euch gefunden habe, habe ich sie verfolgt«, erklärte der Tätowierte Mann. »Und als ich heute Nacht jagte, entdeckte ich ihr Feuer.«
»Warum hast du mich hierhergebracht?«, fragte Rojer.
»Ich dachte mir, du würdest dich über eine Gelegenheit freuen, dir deinen Zirkel zurückzuholen.«
Rojer sah ihn an. »Wenn wir den Zirkel stehlen, während sie schlafen, werden die Horclinge sie umbringen, ehe sie wissen, wie ihnen geschieht.«
»Hier gibt es nur wenige Dämonen«, erwiderte der Tätowierte Mann. »Sie haben bessere Chancen zu überleben, als ihr sie hattet.«
»Trotzdem, wie kommst du darauf, dass ich dieses Risiko eingehen würde?«
»Ich beobachte«, erwiderte der Mann. »Und ich höre zu. Ich weiß, was sie dir angetan haben … und Leesha.«
Rojer schwieg eine geraume Weile. »Sie sind zu dritt«, wandte er schließlich ein.
»Wir sind hier in der Wildnis«, betonte der Tätowierte Mann. »Wenn du Sicherheit brauchst, geh zurück in die Stadt.« Das letzte Wort spuckte er aus wie einen Fluch.
Aber Rojer wusste aus eigener Erfahrung, dass man auch in der Stadt nicht sicher war. Plötzlich sah er wieder, wie Jaycob zu Boden sackte, und hörte Jasins höhnisches Lachen. Nach dem Überfall hätte er Anzeige erstatten können, doch stattdessen entschied er sich zu fliehen. Er lief dauernd weg und ließ zu, dass andere für ihn starben. Während er auf das Feuer hinabstarrte, tastete seine Hand nach dem nicht mehr vorhandenen Talisman.
»Habe ich mich geirrt?«, fragte der Tätowierte Mann. »Sollen wir in unser Lager zurückgehen?«
Rojer schluckte hart. »Ja, aber erst, wenn ich mir geholt habe, was mir gehört.«
28
Geheimnisse
332 NR
Ein leises Wiehern weckte Leesha. Sie öffnete die Augen und sah Rojer, der die Fuchsstute striegelte, die sie in Angiers gekauft hatte, und einen Moment lang wagte sie zu glauben, sie hätte die Ereignisse der letzten zwei Tage nur geträumt.
Doch dann trat Schattentänzer in ihr Blickfeld, ein mächtiger Hengst, der die Stute überragte, und mit aller Macht stürmte die Realität wieder auf sie ein.
»Rojer«, fragte sie ruhig, »wieso ist mein Pferd auf einmal wieder da?«
Rojer öffnete den Mund zu einer Antwort, aber just in diesem Moment kam der Tätowierte Mann mit zwei kleinen Kaninchen und einer Handvoll Äpfeln ins Lager zurück. »Gestern Nacht habe ich das Lagerfeuer eurer Freunde entdeckt«, erklärte er, »und ich dachte, mit zwei Pferden kämen wir schneller vorwärts.«
Leesha schwieg eine Zeit lang und verarbeitete diese Nachricht. Die verschiedensten Emotionen wühlten sie auf, hauptsächlich Scham und Ekel. Rojer und der Tätowierte Mann ließen ihr Zeit, und dafür war sie ihnen dankbar. »Hast du sie getötet?«, fragte sie dann. Auf eine Weise wünschte sie sich,
die Antwort würde Ja lauten, obwohl es gegen alles verstieß, woran sie glaubte und was Bruna sie gelehrt hatte.
Der Tätowierte Mann sah ihr direkt in die Augen. »Nein«, erwiderte er, und sie fühlte sich unendlich erleichtert. »Ich habe sie lange genug aufgescheucht, um das Pferd zu stehlen, aber das war auch alles.«
Leesha nickte. »Mit dem nächsten Kurier, der durch das Tal der Holzfäller kommt, schicken wir einen Bericht über sie an den Magistrat des Herzogs.«
Ihre Decke mit den vielen Taschen für die Kräuter hing unordentlich zusammengerollt am Sattel. Sie nahm sie ab und prüfte den Inhalt, erfreut, dass die meisten Flaschen und Beutel unversehrt waren. Das berauschende Bitterkraut hatten sie aufgeraucht, doch das ließ sich ohne weiteres ersetzen.
Nach dem Frühstück ritt Rojer auf der Stute, während Leesha hinter dem Tätowierten Mann auf Schattentänzer saß. Sie schlugen ein flottes Tempo an, denn am Himmel ballten sich Wolken zusammen und es drohte zu regnen.
Leesha fand, eigentlich müsste sie sich fürchten. Die Banditen lebten noch und mussten irgendwo vor ihnen durch die Gegend
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