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Das Lied der Dunkelheit

Das Lied der Dunkelheit

Titel: Das Lied der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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strolchen. Mit Schaudern erinnerte sie sich an das lüsterne Gesicht des schwarzbärtigen Kerls und das brüllende Gelächter seiner Kumpane. Doch noch entsetzlicher war die Erinnerung an das ungeheure Gewicht und die stumpfe, brutale Lust des Stummen.
    Doch sie hatte keine Angst. Bei dem Tätowierten Mann fühlte sie sich noch sicherer aufgehoben als früher bei Bruna. Er kannte keine Müdigkeit. Er kannte keine Furcht. Und sie wusste ohne den Schatten eines Zweifels, dass ihr nichts zustoßen konnte, solange sie sich unter seinem Schutz befand.
    Schutz. Es war ein seltsames Gefühl, dass sie plötzlich einen Beschützer brauchte, und irgendwie kam es ihr unwirklich vor.
Sie hatte so lange auf sich selbst aufgepasst, dass sie bereits vergessen hatte, was es hieß, hilflos zu sein. Ihre Fähigkeiten und ihr Verstand reichten aus, um sie in der Zivilisation überleben zu lassen, aber in der Wildnis waren Eigenschaften gefragt, die sie nicht besaß.
    Der Tätowierte Mann bewegte sich, und sie merkte auf einmal, dass sie ihre Arme um seine Taille geschlungen hatte, sich fest gegen seinen Rücken presste und ihren Kopf auf seiner Schulter ruhen ließ. Sie rückte von ihm ab, und vor lauter Verlegenheit hätte sie beinahe die Hand übersehen, die aus dem Gestrüpp am Straßenrand hervorragte.
    Als sie sie dann entdeckte, stieß sie einen lauten Schrei aus.
    Der Tätowierte Mann zügelte den Hengst; Leesha fiel fast vom Pferd und eilte an die Stelle. In fliegender Hast teilte sie die Ranken und rang nach Luft, als sie sah, dass die Hand nicht mehr an einem Körper hing; sie war glatt abgebissen worden.
    »Leesha, was ist los?«, schrie Rojer, als er und der Tätowierte Mann zu ihr rannten.
    »War das Lager der Banditen hier in der Nähe?«, fragte sie, die Hand in die Höhe haltend. Der Tätowierte Mann nickte. »Bring mich hin!«, forderte Leesha.
    »Leesha, was für einen Sinn hätte es …«, begann Rojer, aber sie überhörte ihn, den Blick fest auf den Tätowierten Mann gerichtet.
    »Bring! Mich! Hin!«, wiederholte sie, jedes Wort einzeln betonend. Der Mann nickte, trieb einen Pflock in den Boden und befestigte die Zügel der Stute daran.
    »Pass auf«, befahl er Schattentänzer; der Hengst nickte mit dem Kopf und wieherte.
    Nicht lange, und sie entdeckten das Lager; inmitten von Blutlachen lagen die halb gefressenen Leichen. Leesha hob ihre
Schürze und bedeckte damit Mund und Nase, weil der Gestank unerträglich war. Rojer fing an zu würgen und verließ fluchtartig die Lichtung.
    Aber als Heilerin war Leesha an den Anblick von Blut gewöhnt. »Nur zwei«, stellte sie fest; als sie die Leichenteile untersuchte, stiegen Gefühle in ihr hoch, die zu verwirrend waren, um sie zu deuten.
    Der Tätowierte Mann nickte. »Der Stumme fehlt. Der Riese.«
    »Ja«, bestätigte Leesha. »Und der Zirkel ist auch nicht mehr da.«
    »Richtig, der Zirkel ist weg«, pflichtete er ihr nach einer Weile bei.

    Als sie zu den Pferden zurückgingen, sahen sie, dass der Himmel sich immer stärker bewölkte. »Zehn Meilen weiter die Straße entlang gibt es eine Kurierhöhle«, erklärte der Tätowierte Mann. »Wenn wir uns beeilen und auf das Mittagessen verzichten, können wir es bis dorthin schaffen, ehe es zu regnen anfängt. Wir müssen so lange in einem Unterschlupf bleiben, bis das Unwetter vorbei ist.«
    »Der Mann, der Horclinge mit bloßen Händen tötet, fürchtet sich vor ein bisschen Regen?«, fragte Leesha.
    »Wenn die Wolkendecke dicht genug ist, können die Horclinge schon vor Sonnenuntergang erscheinen«, erklärte der Tätowierte Mann.
    »Seit wann hast du Angst vor Dämonen?«, hakte Leesha weiter nach.
    »Es wäre töricht und gefährlich, im Regen zu kämpfen«, lautete die Antwort. »Der Boden wird aufgeweicht, der Schlamm verdeckt die Siegel und man rutscht leicht aus.«

    Kaum hatten sie sich in der Höhle eingerichtet, da brach das Gewitter los. Strömender Regen verwandelte die Straße in einen Morast, gegabelte Blitze zuckten über den schwarzen Himmel, und das Heulen des Windes wurde vom Grollen des Donners übertönt.
    Ein großer Teil des Höhleneingangs war bereits mit Siegeln geschützt, kraftvollen, tief in den Fels eingekerbten Symbolen; die verbleibenden Lücken sicherte der Tätowierte Mann, indem er die in der Höhle aufbewahrten Siegelsteine verteilte.
    Wie er vorhergesagt hatte, tauchten in der trügerischen Dämmerung ein paar Dämonen auf. Grimmig sah er zu, wie sie aus den dunkelsten Winkeln des

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