Das Lied der Maori
nicht mitbekommen hat. Aber du glaubst doch nicht ernsthaft, dass unser Möchtegernschafbaron sich von dir aushalten lässt? Wo sollte er denn hin mit Gloria, wo doch überall die Spatzen die Geschichte von den Dächern pfeifen? Und was sollte er mit ihr machen? Meine Güte, er weiß nicht mal, wie er sie halten soll. Es ist völlig undenkbar, dass er sie mitschleppt, zumal unsere Mrs. Whealer ja keine Leibeigene ist, der er einfach befehlen kann, dass sie mit ihm kommt. Und im schlimmsten Fall hat das Kind auch noch eine Mutter. Du könntest dich an Kura wenden. Sie wird ja wohl so viel für ihre Tochter empfinden, dass sie die Sorge für das Mädchen dir überträgt. Jedes Gericht würde für dich entscheiden. Also mach dich nicht verrückt.« James zog Gwyn in die Arme, aber so ganz konnte er sie doch nicht beruhigen. Sie hatte sich schon so sicher gefühlt! Und nun lief dieser William aus dem Ruder!
Heather Witherspoon schlich in den ersten Tagen nach Kuras Weggang wie ein geprügelter Hund herum. Sie konnte nicht verstehen, warum William sie plötzlich abwies, und das obendrein in rüdem Tonfall. Schließlich war es nicht ihre Schuld gewesen, dass Kura sie ertappt hatte, im Gegenteil, sie hatte Kuras Strategie an jenem Abend durchaus erkannt und William gegenüber Andeutungen gemacht. Aber er war schon zu betrunken gewesen, um zu verstehen, und nicht bereit, sich von seiner Frau manipulieren zu lassen.
»Ich kriech doch nicht, wenn sie pfeift!«, erklärte er in trunkener Empörung. »Und ... und ganz bestimmt fahr ich sie nicht nach Christchurch. Soll sie doch mit den Hüften wackeln, bis der Pfeffer wächst, ich nehm sie, wann ich will, und nicht, wenn’s ihr passt.«
Heather hatte nicht weiter auf ihn eingewirkt. Das konnte niemand von ihr verlangen; schließlich liebte sie ihn. Ihr jetzt die Schuld an allem zu geben war ungerecht.
Doch Heather hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es im Leben nicht immer gerecht zuging, und so besann sie sich jetzt auf ihre bewährte Strategie: Sie würde da sein und warten. Irgendwann würde William sich wieder besinnen, irgendwann würde er sie brauchen. An eine Rückkehr Kuras glaubte sie nicht. Die feierte jetzt erst mal Erfolge, und wenn sie einen Mann brauchte, würde sie sich dort einen suchen, wo sie sich gerade aufhielt. Kura-maro-tini Warden war auf William Martyn nicht angewiesen. Und wenn Heather an Liebe glaubte, dann allenfalls an ihre eigene.
Kura hatte ihren Mann bereits gefunden, auch wenn sie in diesem Fall nicht von Liebe gesprochen hätte. Aber sie bewunderte Roderick Barrister: Er schien die Erfüllung all ihrer Träume von Erfolg und Karriere. Zum einen konnte er sie in die Geheimnisse des Belcanto einweisen, sehr viel tiefer und intensiver jedenfalls als Miss Witherspoon mit ihren drei Gesangsstunden in der Schweiz. Außerdem besaß er Macht – das Ensemble hörte auf seinen Befehl, in einer solchen Ergebenheit, wie Kura es bislang nie gesehen hatte. Natürlich gab es auch auf Kiward Station Herren und Diener, aber die Eigenmächtigkeit und das Selbstbewusstsein der Viehhüter und der Maoris, die William so verwirrt hatten, waren für Kura selbstverständlich. Kadavergehorsam war auf Schaffarmen nicht gefragt. Wer hier arbeitete, musste auch eigene Entscheidungen treffen können. In Barristers Ensemble dagegen galt nur ein Wort, und das war das seine. Er konnte Ballerinen glücklich machen, indem er ihnen ein Solo mehr versprach, und selbst voll ausgebildete Sängerinnen wie Sabina Conetti wagten keinen Widerspruch, wenn er ihnen Neulinge wie Kura vor die Nase setzte. Und Barristers Gunst, das fand Kura schnell heraus, hatte durchaus etwas mit dem Körpereinsatz der weiblichen Ensemblemitglieder zu tun. Die Ballerinen redeten ganz offen darüber, dass beispielsweise Brigitte die Carmen nur deshalb hatte singen dürfen, weil sie dem Impresario zu Willen gewesen war. Das unerwünschte Ergebnis der Affäre beseitigte dann eine verschwiegene Hebamme in Wellington.
Brigitte konnte anschließend wochenlang nicht tanzen und schluchzte sich durch die Nächte. Kura ging das auf die Nerven, denn sie teilte zunächst ihr Hotelzimmer mit der kleinen Tänzerin. Immerhin nahm Brigitte ihr nichts übel. Sie war froh, die Gesangsrollen los zu sein, die sie hoffnungslos überforderten, und offensichtlich hatte sie auch keine Lust mehr auf Roderick. Als Kura nach nur wenigen Nächten begann, sich kurz nach dem Zubettgehen hinauszuschleichen, um den
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