Das Lied der Maori
begriffen, verkauften sich nicht. Sie war mit einer Gabe gesegnet, die niemand zu würdigen wusste. Also gab es auch keinen Grund, sich allzu viel darauf einzubilden.
Kura stieß die Schwingtür auf und betrat Madame Clarisse’ Etablissement. Wie erwartet war alles sehr ordentlich, die Tische geschrubbt, der Boden gefegt – und an einem Klavier im Seitenbereich des Pubs saß ein rothaariges Mädchen.
Kura traute ihren Augen nicht. Sie verharrte, doch die Pianistin schien bereits ihr Eintreten bemerkt zu haben.
Elaine wandte sich um. Sie zwinkerte, als hoffte sie, auf diese Weise ein Trugbild vertreiben zu können. Aber das Mädchen, das da in einem verschlissenen roten Reisekostüm vor ihr stand, war zweifellos Kura. Etwas schlanker geworden vielleicht, etwas blasser – das Gesicht nicht mehr königlich reserviert, sondern entschlossener und härter. Aber ihr Teint war immer noch makellos, ihr Haar glänzend, ihre Augen betörend wie eh und je. Und auch ihre Stimme klang fein moduliert wie gehabt.
»Du?«, fragte Kura mit überraschtem Augenaufschlag. »Ich dachte, du wärst verheiratet, irgendwo in Otago?«
»Und ich dachte, du lebtest glücklich und zufrieden mit William auf Kiward Station!« Elaine war entschlossen, sich nicht mehr von Kura einschüchtern zu lassen. Ihr erster Impuls war zwar gewesen, sich gleich wieder klein und demütig zu geben; dann aber spürte sie, wie der lang unterdrückte Zorn auf Kura in ihr aufstieg, die so ganz nebenbei ihr Leben zerstört hatte. »Was willst du, Kura Warden? Oder besser gesagt, Kura Martyn? Lass mich raten. Es gefällt dir nicht im Wild Rover. Du hast mir erst meinen Mann weggenommen, und jetzt willst du meinen Job!«
Elaine funkelte die andere an.
Kura verdrehte die Augen.
»Du warst immer schon gefühlsduselig, Lainie«, sagte sie lächelnd. »Und ein bisschen zu besitzergreifend. ›Mein Mann‹, ›mein Job‹ ... dabei hat William dir nie gehört. Und dieser Job hier ...« Kura ließ den Blick spöttisch über die Einrichtung des Lucky Horse schweifen. »Nun, es ist wohl nicht der prestigereichste des britischen Empire. Oder siehst du das anders?«
Elaine wusste nichts zu antworten. Sie spürte nur ohnmächtige Wut und wünschte sich zum ersten Mal seit dem entsetzlichen Morgen im Stall auf Lionel Station eine Waffe. Sie hätte jetzt auftrumpfen müssen, stattdessen begann sie zu flehen – und hasste sich selbst dafür.
»Kura, ich brauche den Job! Du kannst überall singen ...«
Kura lächelte. »Vielleicht würde ich aber gern
hier
singen«, bemerkte sie. »Und die Gattin von Thomas Sideblossom wird doch nicht auf eine Stellung im Puff angewiesen sein.«
Elaine ballte hilflos die Fäuste. Aber dann bewegte sich etwas auf der Treppe zum oberen Geschoss. Charlene kam herunter, und sie musste die letzten Worte gehört haben.
Elaines lodernde Wut wich eiskaltem Schrecken.
Die Gattin von Thomas Sideblossom
... Wenn Charlene sich das merkte und sie an Madame Clarisse verriet ...
Charlene musterte jedoch nur Kura von oben nach unten, wofür die Treppe ihr eine exzellente Plattform bot. Das dralle, dunkelhaarige Freudenmädchen taxierte die mögliche Konkurrenz gnadenlos und ohne jede Scham.
»Wer ist das denn, Lainie?«, fragte sie dann gelassen, ohne der Neuen auch nur einen Gruß zu gönnen. »Der Ersatz für Chrissie Hamilton? Tut mir leid, Kleine, aber Madame Clarisse sucht eine Blonde. Schwarzhaarige haben wir schon genug. Es sei denn, du kannst was Besonderes.« Charlene leckte sich die Lippen.
Kura blitzte sie empört an. »Ich bin Sängerin!«, fuhr sie auf. »Ich habe es nicht nötig, als ...«
»Ach so, das Maori-Mädchen, das bei Holloway klimpert!« Charlene verdrehte die Augen. »Das ist natürlich ein Sprungbrett für die Weltkarriere. Du kannst dir die Jobs aussuchen, Süße, ich versteh schon. Und du beweist einen exzellenten Geschmack.«
Kura hatte sich inzwischen wieder gefangen. Sie war nie schüchtern gewesen, und in Rodericks Ensemble hatte sie gelernt, sich durchzusetzen. Auch und gerade unter Mädchen.
»Ich kann dir gern vorspielen, wenn du hier was zu melden hast«, sagte sie. »Ich fürchte allerdings, du bist nur eine Hure unter vielen.«
Charlene zuckte die Achseln. »Und du bist eine Klavierspielerin unter vielen. Gut, vielleicht sind wir ja beide etwas besser als der Durchschnitt. Aber das merkt der Kunde erst im Bett. Bei mir jedenfalls, bei dir merkt er’s gar nicht. Für die Kerle hier klingt ein
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