Das Lied der Maori
Toten in dem relativ weiten Raum vor dem Förderkorb. Zwei Männer, die es im Rennen erwischt hatte. Sie mussten vor irgendetwas geflohen sein, aber es war zu spät, den Korb zu rufen.
»Gas«, flüsterte Tim heiser. »Es ist hier abgezogen, in diesem Bereich funktioniert die Belüftung ja noch. Aber sie hatten wohl schon zu viel davon eingeatmet.«
»Kann auch eine Art Druckwelle gewesen sein«, vermutete der junge Mann. »Was machen wir jetzt, Sir? Gehen wir weiter?«
Tim wusste, dass der Mann am liebsten gleich wieder ausgefahren wäre. Und wahrscheinlich hatte er damit sogar Recht. Wenn es hier Tote gab, war es höchst unwahrscheinlich, dass tiefer in der Mine jemand überlebt hatte. Aber wenn doch? Wenn es Luftblasen gab?
Tim biss sich auf die Lippen. »Ich sehe mir das genauer an«, sagte er leise. »Aber Sie können gehen, wenn Sie wollen.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich komme mit. Das sind doch meine Kumpel hier unten ...«
Tim nickte. »Wie heißen Sie?«, fragte er, während die Männer dem stockdunklen und totenstillen Schacht folgten. Die Lampen an ihren Helmen tauchten ihre unmittelbare Umgebung in ein fahles, gespenstisches Dämmerlicht.
»Joe Patterson. Schauen Sie, da sind ... da sind noch zwei.«
»Drei ...«, flüsterte Tim.
Zwei der Männer hatten wohl versucht, einen Verletzten zu stützen.
»Joe, wir müssen uns aufteilen, schon um das schneller hinter uns zu bringen. Gehen Sie zu Schacht sieben, ich nehme Nummer neun.«
Der Stollen gabelte sich hier. Tim fragte sich, ob die Männer von rechts oder links gekommen waren. Er wandte sich schließlich nach rechts. Der widerstrebende Joe – allein weiterzugehen war ihm offensichtlich unheimlich – bog nach links ab. Allzu viele Männer konnte es in Schacht sieben nicht getroffen haben. Tim dankte dem Himmel für die Verzögerung der Holzlieferung.
In Schacht neun fand er schnell weitere Tote – und dann auch die ersten Einbrüche. Hier näherte er sich unverkennbar dem Ursprung der Explosion, deren Druckwelle Gas und Trümmer in der ganzen Mine verteilt hatte. Immer noch herrschte Stille. Irgendwann konnte Tim sie nicht mehr ertragen und begann zu rufen.
»Ist da jemand? Ist hier noch jemand am Leben?«
Und dann antwortete plötzlich eine junge Stimme, noch kindlich und völlig verschreckt. »Ich bin hier! Hilfe! Bitte! Ich bin hier ...«
Der Ruf endete in einem Schluchzen.
Tim schöpfte plötzlich wieder Hoffnung. Also doch Überlebende! »Es kommt Hilfe, nur die Ruhe!«, rief er in die Finsternis vor ihm. Schacht neun war auch vor der Explosion nicht gerade übersichtlich gewesen. Der Junge konnte sonst wo stecken. »Wo bist du genau? Bist du verletzt?«
»Es ist so dunkel ...« Der Knabe klang hysterisch. Tim folgte dem Klang seiner Stimme immer tiefer in einen Blindstollen und hoffte, dass der Junge nicht verschüttet war. In der Eile hatten Joe und er nicht mal Grabwerkzeuge mitgenommen. Die Stimme klang nicht gedämpft, und sie kam jetzt deutlich näher.
»Bleib, wo du bist, Junge, aber sag was!«, rief Tim. »Ich hole dich raus ...«
Gleich darauf sah er einen großäugigen Dreizehnjährigen im Dunkel des Schachtes. Roly O’Brien – Tim erinnerte sich, dass Matt ihm den Jungen vor ein paar Tagen vorgestellt hatte. Roly hatte gerade als Lehrling in der Mine angefangen. Sein Vater arbeitete allerdings schon jahrelang hier. Tim lief es kalt den Rücken herunter. Wo war Frank O’Brien?
Roly schluchzte vor Erleichterung und wäre Tim beinahe um den Hals gefallen.
»Es hat gekracht«, berichtete er zitternd. »Ich war hier drin ... sie hatten mich reingeschickt, weil ich das mit dem Hauen noch ein bisschen üben sollte. In den Hauptschächten hielte ich sie nur auf, meinte mein Vater, aber hier im Streb könnte ich die Reste abräumen ...«
Der Schacht – zwar mit den anderen verbunden, aber ein wenig abgelegen – war im Grunde ausgebeutet. Die Männer hatten ihn nie gemocht. Da er tiefer lag als die anderen Schächte, war die Luft hier immer abgestanden. Gerade das mochte Roly heute jedoch das Leben gerettet haben. Offenbar war kein Gas in diesen Tunnel geströmt, und eingestürzt war auch nichts. Roly war völlig unverletzt, aber halb tot vor Angst. Als sämtliche Lampen nach der Explosion ausfielen, hatte er sich nicht mehr orientieren können und nur noch zitternd in der Ecke gehockt, bis er Tim rufen hörte.
»Alles wird gut, Roly, beruhig dich ...« Tim wusste nicht, ob er sich selbst oder den schlotternden
Weitere Kostenlose Bücher