Das Lied der Maori
und gab einen Schuss Brandy in seinen Tee. »Vier Meilen durch den Sturm wegen einer kleinen Erkältung!«
»Aber ...« Elaine wollte etwas einwenden, doch Dr. Leroy schüttelte nur den Kopf.
»Wenn dem Jungen beim Husten alles wehtut, liegt es daran, dass seine Muskeln infolge dieses überzogenen Trainingsprogramms völlig verspannt sind. Als ich da ankam, stemmte er gerade Gewichte ...«
»Wozu das denn?«, fragte Elaine. »Ich denke, er will laufen lernen.«
»Wissen Sie, was allein die Beinschienen wiegen, die er bei jedem Schritt stemmen muss?« Dr. Leroy nahm sich einen weiteren Tee und gab auch einen Schuss Brandy in Elaines Tasse. »Im Ernst, Mädchen, ich habe noch nie einen Mensch so hart und diszipliniert arbeiten sehen wie Timothy Lambert. Inzwischen habe ich kaum noch Zweifel, dass er Sie tatsächlich auf eigenen Beinen zum Traualtar führt. Was er mir heute gezeigt hat, trotz Husten und Schnupfen – Respekt! Ich hab ihn jetzt trotzdem zwei Tage ins Bett geschickt, damit er die Erkältung und den ärgsten Muskelkater auskuriert. Aber ob er sich daran hält? Immerhin hab ich ihm angekündigt, Sie kämen das morgen kontrollieren. Im Beisein des Drachens, der sich seine Mutter nennt – sie kann Sie also kaum abweisen!«
Am liebsten hätte es Nellie Lambert gesehen, wenn Lainie nur bei besonderen Gelegenheiten und auf ihre persönliche Einladung hin ins Haus der Lamberts gekommen wäre. Ungefähr alle zwei Wochen empfing sie das Mädchen zum Tee – entsetzlich steife Veranstaltungen, die Lainie hasste. Auch deshalb, weil die Lamberts sie dabei natürlich ausfragten. Nach ihrer angeblichen Kindheit in Auckland, nach ihren Verwandten, ihrer Herkunft in England – Elaine verstrickte sich mehr und mehr in ein Lügengebäude, dessen Einzelheiten sie immer wieder vergaß. Dann musste sie improvisieren und wand sich dabei nicht nur unter Mrs. Lamberts ungnädigen Blicken, sondern auch unter Tims belustigtem Augenzwinkern.
Tim durchschaute ihre Schwindeleien, und Elaine fürchtete, dass er diese als mangelndes Vertrauen zu ihm deutete. Sie rechnete ständig damit, dass er sie darauf ansprach, und war deshalb auch nervös und verspannt, wenn sie mal mit ihm allein war. Tim seinerseits hasste es, Lainie im Rollstuhl gegenüberzusitzen oder sich gar von ihr schieben zu lassen. Sein Hanteltraining trug deutlich Früchte; er schaffte es inzwischen sogar, das Monstrum von einem Stuhl ein paar Meter zu bewegen. Aber Drehungen und selbst das schlichte Manövrieren um Möbelstücke herum waren Schwerstarbeit. Dazu hasste Tim es, sich jedem Betrachter sofort als »Krüppel« zu präsentieren. Wenn Elaine ihn in seinen eigenen Räumen besuchte, half Roly ihm meist einfach in einen normalen Sessel. Aber die Stühle um den Esstisch im Salon waren unbequem, Sessel und Sofas zu niedrig. Tim fügte sich also in den Krankenstuhl, nervös und angespannt. Eine normale Unterhaltung kam dabei nicht zustande. Manchmal weinte Elaine anschließend enttäuscht und hilflos in Banshees oder Fellows Mähne, während Tim seine Wut an den Hanteln und Gehhilfen in seinem Zimmer ausließ und noch verbissener trainierte.
Beiden graute es deshalb auch schon vor dem festlichen Weihnachtsessen, zu dem Mrs. Lambert förmlich geladen hatte.
»Eine kleine Gesellschaft, Miss Lainie. Ich hoffe, Sie haben etwas Passendes anzuziehen ...«
Elaine geriet sofort in Panik, denn natürlich hatte sie keine Abendgarderobe. Die Einladung war auch sehr spät erfolgt. Sie hätte sich nichts mehr schneidern lassen können, selbst wenn ihr Geld dafür gereicht hätte.
Verzweifelt probierte sie ein Kleid nach dem anderen an, und schließlich fand Charlene sie in Tränen.
»Alle werden mich schief angucken«, jammerte Elaine. »Nellie Lambert will der ganzen Welt demonstrieren, dass ich nur ein Barmädchen ohne Umgangsformen bin. Es wird schrecklich!«
»Mach dich nicht verrückt«, tröstete Charlene. »Es ist doch nicht mal eine Abendeinladung, nur ein Lunch. Außerdem wird kaum alle Welt da sein. Mich zum Beispiel hat sie nicht eingeladen.«
Elaine hob den Kopf. »Warum sollte sie dich ...«
»Als Mr. Matthew Gawains offizielle Verlobte!« Charlene strahlte sie an und drehte sich stolz vor dem Spiegel. »Schau mich an, Lainie Keefer, hier steht eine ehrbare junge Dame. Mit Madame Clarisse ist es schon besprochen: Ab heute bediene ich zwar noch im Pub, aber die Kerle nehme ich nicht mehr mit hinauf! Ich fürchte, Matt zahlt etwas dafür, aber ich
Weitere Kostenlose Bücher