Das Lied der Maori
dass sie ihm irgendwie aus diesem verdammten Stuhl half. »Ich kann dich natürlich nicht heben, aber ...«
Tim lächelte, und zum ersten Mal an diesem Tag sah sie etwas wie Freude, ja Triumph in seinem Blick.
»Oh, du brauchst mich nicht zu heben! Ich kann es fast allein, nur das Aufstehen aus diesem Ding ist schwierig. Vor allem sehe ich keine Möglichkeit, in mein Zimmer zu kommen.«
Das Schieben des Stuhls erwies sich wirklich als das Schwierigste. Allerdings wurde es leichter, als sie den Salon verließen und damit von den voluminösen Teppichen herunterkamen. Tim hatte früher im oberen Stockwerk gewohnt, wo auch seine Eltern ihre Schlafzimmer hatten. Jetzt hatte man frühere Dienstbotenquartiere zwischen Küche und Stallungen für ihn hergerichtet. Nellie hatte darüber schon wieder Tränen vergossen, aber Tim fand es nicht schlimm, dass es manchmal ein wenig nach Heu roch. Elaine schob ihn in seinen kleinen Salon, in dem er sie auch meistens empfing, wenn sie ihn besuchte.
»Wenn du mir hier aufs Sofa hilfst?«, fragte er mit belegter Stimme.
Elaine nickte. »Was soll ich tun?«, erkundigte sie sich und befreite ihn dabei schon einmal von dem verhassten Plaid.
»Du hast ja deine Schienen um!«, bemerkte sie verwundert. Sie sah die Stahlgerüste um Tims Beine zum ersten Mal, und die Notwendigkeit des Hanteltrainings wurde ihr schlagartig klar. »Ist das nicht unbequem?«
Tim lächelte gequält. »Ich wollte mir eine Fluchtmöglichkeit offen halten. Wobei ich leider nicht mit meiner Mutter gerechnet hatte ...« Er wies auf seine Krücken, die an der Wand seines Zimmers lehnten.
Elaine spürte wieder brennende Wut auf Nellie Lambert in sich aufsteigen. Selbst wenn Tim nur ein oder zwei Schritte gehen konnte, so hätte es ihm doch unendlich geholfen, wenn er die Gäste wenigstens im Stehen hätte begrüßen können.
»Wenn du sie mir bitte zureichst ...« Tim klemmte sich die Krücken unter die Arme und versuchte, sich aus dem Stuhl hochzustemmen, doch die rechte Gehhilfe rutschte weg, und er griff Halt suchend nach Elaines Arm. Elaine legte die Arme um ihn und stützte ihn, bis er auf die Beine kam. Und dann stand er zum ersten Mal seit einem Jahr neben ihr, an sie gelehnt, aber deutlich größer als sie. Tim verlor auch die linke Krücke, als ihm dies bewusst wurde. Elaine hielt ihn, aber jetzt schlang auch er einfach die Arme um sie.
»Tim, du kannst stehen! Das ist ein Wunder!« Elaine sah zu ihm auf und strahlte. Sie fand keine Zeit, sich Sorgen zu machen, weil ein Mann sie umfasste. Es war einfach nur schön, Tim wieder aufrecht neben sich zu haben und sein Lachen aufleuchten zu sehen wie damals beim Rennen.
Tim spürte sie in seinen Armen und konnte nicht anders. Er senkte sein Gesicht zu ihr herab und küsste sie. Zuerst sanft auf die Stirn und anschließend, mutig geworden, auf den Mund. Und dann geschah das wirkliche Wunder. Elaine öffnete ihm ihre Lippen. Ganz ruhig, ganz selbstverständlich ließ sie sich küssen und erwiderte den Kuss sogar zaghaft.
»Das war herrlich«, sagte Tim heiser. »Lainie ...«
Er küsste sie noch einmal, bevor sie für ihn nach den Krücken angelte. Woraufhin er ihr vorführte, dass er die zwei Schritte zum Sofa mühelos schaffte.
»Mein Rekord sind elf!«, meinte er lächelnd und ließ sich dann aufatmend aufs Sofa sinken. »Aber von einem Ende der Kirche zum anderen sind es achtundzwanzig. Roly hat es für mich ausprobiert. Ich muss also noch ein bisschen üben.«
»Ich auch«, flüsterte Elaine. »Das Küssen, meine ich. Und von mir aus können wir gleich damit anfangen ...«
10
Tim platzte fast vor Tatendrang, als Roly O’Brien am nächsten Tag zur Arbeit kam.
»Wir machen heute zuerst die gewohnten Übungen«, erklärte er dem verblüfften Jungen, der eigentlich mit einem ruhigen Morgen gerechnet hatte. Tim hatte am Abend zuvor zwar zufrieden, aber völlig erschöpft ausgesehen. Roly war der Meinung, er sollte heute ruhen. »Und dann holst du mittags Fellow von Miss Lainie.«
»Das ... äh ... Pferd, Mr. Tim?« Roly klang unsicher. Pferde waren ihm nicht geheuer; das Bergmannskind hatte nie mit Tieren zu tun gehabt, die größer waren als eine Ziege oder ein Huhn.
»Genau. Mein Pferd. Lainie wird sich vielleicht schwer davon trennen, aber das kann ich nicht ändern. Mir geht das zu langsam mit dem Laufen, Roly. Ab heute üben wir Reiten!«
»Aber ...«
»Nichts aber, Roly! Fellow tut dir nichts, der ist ein ganz braver Kerl. Und ich muss
Weitere Kostenlose Bücher