Das Lied der schwarzen Berge
es nicht. Er war müde, ausgemergelt und sehnte sich nach seinem Bett. Er aß schnell, trank eine Tasse Tee und küßte Rosa auf die Stirn.
»Gute Nacht, Liebes.« An der Tür drehte er sich noch einmal herum. »Was macht Fräulein Osik?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube aber, sie schläft.«
»Du hast sie heute nicht wieder gesprochen?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe sie den ganzen Tag nicht gesehen.«
Beruhigt ging Meerholdt schlafen.
Auch am nächsten Tag sprach keiner von dem Vorfall … Elena ging Rosa aus dem Weg.
In der kommenden Nacht verschwand Elena Osik aus dem Lager. Als man am Morgen ihre Tür aufbrach, war das Zimmer durchwühlt, Kleider und Wäsche lagen verstreut auf dem Boden. Nahe dem Fenster war ein kleiner Flecken Blut an der Wand.
Grell zerrissen die Alarmsirenen die morgendliche Stille. Hauptmann Vrana von der Gebirgsjäger-Kompanie rannte zum Hause Meerholdts. In Zagreb fiel Stanis Osik in eine tiefe Ohnmacht, als man ihm telefonisch die Entführung mitteilte. Dann schrie er und war nicht zu beruhigen, bis ihm der Arzt eine Spritze gab. Suchkolonnen brachen in die Felsen auf, mit Spürhunden und Bergführern.
Elena Osik fand man nicht …
4
Stanis Osik war in Zabari eingetroffen. Er war in diesen drei Tagen gealtert. Die dicken Augensäcke hingen wie Trauben auf seine Wangen herab. In seinen Augen stand eine Traurigkeit, deren Ausweglosigkeit erschütterte.
Mit Osik war ein Spezialkommando der Belgrader Geheimen Polizei mitgekommen, vier große, ernste Männer und ein Offizier, der zunächst nichts anderes tat, als über das Lager, die Bauplätze und die gesamte Umgebung eine strenge Quarantäne und ein Ausgehverbot zu verhängen. Ab 10 Uhr abends mußten alle arbeitsfreien Kolonnen im Lager sein. Die ausrückenden Gruppen wurden von Militärposten begleitet; es herrschte eine Art Standrecht über Zabari. Auf jeden, der sich ab 10 Uhr abends außerhalb des Lagers befand, in den Bergen, im Wald oder sogar auf der Dorfstraße, durfte ohne Anruf geschossen werden.
Das Zimmer Elenas war an dem Morgen noch, an dem der Überfall entdeckt worden war, versiegelt worden. Nun öffnete Hauptmann Vrana die Tür. Die Spezielbeamten aus Belgrad untersuchten jeden Zentimeter des Zimmers, Osik saß in Meerholdts Wohnung und jammerte. Das Ergebnis war mager … es hatte ein Kampf stattgefunden zwischen Elena und dem Entführer, bei dem einer verletzt worden war. Das Blut an der Fensterwand bewies es. Dann war der Entführer mit dem anscheinend ohnmächtig gewordenen Mädchen aus dem Fenster gestiegen und in der Dunkelheit verschwunden. Von da ab verloren sich alle Spuren … die Spürhunde hatten den Weg verfolgt … bis zum Wald zogen sie an den langen Suchleinen, dann ging der Boden in Felsgeröll über und verwischte die Witterung der Hunde. In den Felsen versagte die beste Spürnase, und die Felsen reichten bis nach Zabari!
Auch die Verhöre ergaben nichts. Keiner hatte den Überfall gesehen, niemand hatte zwei Gestalten bemerkt, die in der Nacht zum Wald hinaufstiegen. Pietro Bonelli vielleicht war der einzige, der etwas aussagen konnte: Er hatte in der Nacht einen Schrei gehört. Aber in Erinnerung an seine blauen Augen hatte er sich vorgenommen, sich niemals mehr in fremde Angelegenheiten zu mischen, und hatte sich auf die Seite gewälzt, um weiterzuschlafen. Daß er damit die Entführung möglich machte und sie nicht verhinderte, machte ihn verwirrt und innerlich zwiespältig. Er philosophierte über das Land und dessen Dummheit – einmal wird man bestraft, weil man sich einmischte, einmal ist man schuldig, weil man sich nicht einmischte! Was soll man tun? Wie ist es richtig? Bonelli fand darauf keine Antwort und entdeckte, wie schwer die Philosophie ist.
Am vierten Tag nach der Entführung begann die große Suchaktion. Hundert Soldaten unter Leitung von Hauptmann Vrana, zweihundert Arbeiter unter Leitung der Spezialbeamten aus Belgrad durchkämmten systematisch die schwarzen Berge. Um alle Schluchten und Pässe, Täler und Winkel zu erfassen, hatte man aus Titograd einen Hubschrauber der Luftwaffe kommen lassen, der das Gebiet nach Planquadraten abflog und fotografierte. Nach diesen Fotos wurden die Suchkolonnen eingesetzt.
Das Wichtigste aber war, daß alle Bewohner von Zabari mithalfen. Sie kannten die Berge, sie kannten fast jeden Winkel der unerforschten Gegend. Vor allem aber sicherten sich die Spezialbeamten aus Belgrad eines Führers, der die ganze Suchaktion
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