Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
fast perfekt, trotz der Zugluft. Der Klang war für meinen Geschmack etwas zu gläsern. Fünf Wochen lang hatte ich nicht an einem Klavier gesessen. Auf einmal war ich nervös. Nicht, weil ich mich sorgte, etwas verlernt zu haben, sondern weil ich merkte, wie sehr ich das Spielen vermisst hatte.
»Spielen Sie nur, immer zu.«
Der junge Herr Direktor war nicht nur dynamisch, er war auch ein guter Beobachter.
»Klassik oder Jazz?«
»Ganz, wie Sie wollen.«
Ich schob mir den Hocker zurecht und begann mit Chopin, einem Walzer, den ich liebte, seit ich ihn mit fünfzehn entdeckt hatte, fügte das erste der
Moments musicaux
von Schubert an. Dann das zweite. Ein paar hell gekleidete Hotelgäste blieben stehen. Jemand applaudierte. Ich hob den Blick, wäre fast aus dem Takt geraten. Der Nöck – jedenfalls sah dieser Mann mit der wasserstoffblonden Mähne auf den ersten Blick so aus wie der nächtliche Ruderer aus Sellin. Ich rettete mich in einen Bossa nova, schloss Frank Sinatras
My way
an, dann James Bond,
Angel Eyes,
denn mir schien, dass das zu meinem potenziellen neuen Chef passte. Volltreffer. Er zwinkerte mir zu und grinste.
»Und das könnten Sie jetzt immer so weiter durchhalten?«
»Mein Gesamtrepertoire reicht für etwa acht Stunden.«
Just a Gigolo
, meine Finger fanden den Weg von allein, und ich lächelte ihn so lange an, bis er seinen Blick wieder aus meinem Dekolleté löste. Ich riskierte einen zweiten Seitenblick zu der Sitzgruppe am Fenster. Der Nöck saß dort tatsächlich, ihm wurde soeben ein Pils serviert, das er mit einem Fünf-Euro-Schein bezahlte. Ein großzügig kalkulierter Preis oder ein großzügiges Trinkgeld. Dennoch wirkte er mit seinen schwarzen Röhrenjeans, den Westernstiefeln und dem wadenlangen schwarzen Ledermantel in dem Hotelambiente in etwa so fehl am Platz wie der Plätzchen backende Astronaut in Ivos Zauberbeamerspiel.
»Wie Sie sehen, zählen wir durchaus auch Prominenz zu unseren Stammgästen.«
»Das verwundert mich nicht.« Ich nickte zu den blitzblanken Jachten hin, die an den Holzstegen schaukelten.
»Tragische Geschichte.« Der Jungdirektor lehnte sich näher, was ihm erneut Einblick in meinen Ausschnitt bescherte. Ich unterdrückte ein Grinsen. Zu Hause – wenn ich eines hatte, dann war es die Vorhersehbarkeit solcher Situationen, die sich in jeder Bar, in der ich spielte, wiederholten. Ein Spiel war das. Mein Spiel. Nach meinen Regeln.
»Ein Spitzenrockgitarrist, aber bei uns war das mit der internationalen Karriere natürlich schwierig.«
Bei uns – es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass der Direkter so jung offenbar doch nicht mehr war und die DDR meinte.
»Aber dann, nach der Wende, da ging seine Band richtig ab und dann – buff, dieser Unfall.«
Ein Unfall, ich nickte, das ging mich nichts an, ich wollte das gar nicht wissen. Sollte ein Hoteldirektor nicht eigentlich diskret sein?
»Na, das wissen Sie ja, Sie sind ja aus der Branche«, sagte er, als hätte ich diesen Gedanken laut gesprochen. »Sie können hier übrigens anfangen. Freitags und samstags, jeweils zwanzig Uhr, also herzlich willkommen.«
Ich hatte eigentlich vorgehabt, direkt vom Hotel aus nach Klütz zu fahren, aber der Tag war zu hell und die Ostsee zu nah, und so folgte ich der Straße entlang der Halbinsel Tarnewitz. In den Dreißigerjahren hatte die Reichsluftwaffe hier unter strengster Geheimhaltung den Einbau von Bordkanonen und Bomben in Kampfflugzeuge erprobt. Wunderwaffen, die dann doch keine Wunder vollbrachten. War mein Großvater jemals dort gewesen, er und seine SA-Kameraden, hieß er das gut, hoffte er auf den deutschen Sieg? Nach dem Krieg hatte die NVA den Stützpunkt übernommen, dann die Bundeswehr, nun war es ein Naturschutzgebiet, und das Betreten war weiterhin strikt verboten, weil nicht auszuschließen war, dass sich noch immer Sprengstoff im Boden verbarg.
Die Straße schwang näher zur See, führte entlang von Ferienhäusern, Kurhotels und windschiefen Kiefern ins Zentrum von Boltenhagen. Frühling. Der erste schöne Tag dieses Jahres. Die Tage in Sellin waren lang gewesen, als würde der Winter nie enden. Ich parkte neben dem weiß leuchtenden Jugendstil-Kurhaus am Anfang der Promenade zur Seebrücke, kaufte mir ein Brötchen mit Räuchermakrele und eine Postkarte, die das Strandleben der Dreißigerjahre zeigte. Damen mit Kleid und Hut, die sehr aufrecht mit zusammengepressten Knien in Strandkörben sitzen. Stramme Herren in dunklen Hosen und
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