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Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition)

Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition)

Titel: Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Kellen
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solange bis es schmerzte. Etwas sagte A, dass es nie wieder brechen würde.
    Sie zählte die Atemzüge, nach denen der Wächter auf sie reagierte. Sie kam nicht einmal bis zur Zwei, da sprangen die metallischen Lider bereits auf und beäugten jede Bewegung von ihr. Und tat sie auch nur einen Schritt in den Raum, dann erklang das Quietschen seiner Gelenke, er folgte A, suchte nach ihr, fand sie immer.
    Anevay flüchtete sich in Träume, die keine waren. Oft erzählte sie sich selbst Geschichten, die sie nicht einmal kannte.
    Sie dachte an ihren Papa und an ihre gemeinsame Zeit, die sich immer ferner und unwirklicher anfühlte. Wie sie gemeinsam durch Wüsten gelaufen sind, wie er A immer wieder eingetrichtert hatte, sich zu wehren. Endlose Schrittfolgen im Sand, auf Waldboden, in einsamen Gassen, auf den stinkenden Teppichen von Motels, auf Felsen. Langsam überkam sie das Gefühl, dass er sie sein Leben lang darauf vorbereitet hatte, irgendwann ohne ihn sein zu müssen.
    Er hatte sie auch das Lesen und Schreiben gelehrt. Rechnen und Philosophie. Bücher und Musik, so wunderbare Musik. Oft waren sie in die Lichtspielhäuser gegangen und Anevay hatte dann wie gebannt auf die Figuren gestarrt, zu den Geschichten dort auf der Leinwand. Abenteuerfilme mochte sie am liebsten. Und eine der Hauptdarstellerinnen ganz besonders: Leandra Vazan! Eine glutäugige Heldin, die unbesiegbar schien. Wann immer A ein Plakat ihrer Filme entdeckt hatte, hatte sie ihren Papa dazu gezwungen, mit ihr in die Vorstellung zu gehen. Manche von Vazans Filmen hatte A auswendig mitsprechen können. Dann hatte sie die Arme auf dem freien Sitz vor ihr verschränkt, die Augen geschlossen und die Dialoge mitgeflüstert.
    Doch als sie aufwachte, war sie so allein wie zuvor.
     
    Jeden Tag lief A. Der Raum war genau sechzehn Schritte lang, genug, um darin zu laufen. Auch machte sie Übungen, wie ihr Vater sie ihr beigebracht hatte. Liegestütze, abwechselnd auf einem Bein stehen, Schattenboxen. Ihre Muskeln sollten sich daran erinnern, was sie waren. Wann immer ihr Herz seine Schläge erhöhte, dachte Anevay an Tiere. Lief sie, war sie ein Wolf. Ihr Vater hatte einmal erzählt, dass es Wölfe gab, die niemals zu rennen aufhörten. Sie würden den ganzen Kontinent von Nord nach Süd durchqueren, dann umdrehen und wieder zurücklaufen. Man nannte sie die Ruhelosen Schatten, die Windwölfe .
    Einmal hatte A einen Waldpuma gesehen, der hinter einem Baum verharrte. Er stand nur da, rührte sich nicht. Gesicht und Körper halb verdeckt von der zerfurchten Rinde. A blieb ganz still, blickte ihn nur an. Und er sah sie an. Kein Haar bewegte sich an ihm. Kein Ohr zuckte. Es war eine lautlose Begegnung. Die ganze Welt um sie beide herum war wie ausgesperrt. A hatte keine Angst. Sie war nur froh. Ihr Herz klopfte in sein Herz. Ganz tief und langsam. All seine Farben kamen zu ihr.
    So lief sie, wenn sie lief, genau wie diese Windwölfe , während der Wächter über ihr zuschaute und quietschte.
    Es war nicht einfach, eine Zeit in sich zu behalten, wenn man in einem Raum aus schwarzem Glas gefangen war. A vertraute auf ihre innere Uhr, die ihr sagte, wann sie Hunger hatte, wann sie Schlaf brauchte. Dennoch spürte sie, wie selbst dies ihr immer mehr entglitt, das Gefühl unbeholfener wurde, bis sie schließlich für ein Fenster Fingermann einen weiteren Zahn geschenkt hätte.
    Und es wurde schlimmer.
    Wenn sie lief, begann A unversehens zu heulen, wenn sie Hunger hatte, schüttelten sie Krämpfe, so dass sie bei jedem Bissen würgte. Mit jedem Tag rutschte sie weiter auf eine Kante zu, die tief unter ihr zu warten schien. Jeden Tag versuchte sie sich dagegen zu stemmen. An jedem Tag knüpfte sie in ihren Gedanken ein Seil, um sich daran festzuhalten. Und doch wurde dieses Seil mit jedem Tag dünner, bis es schließlich riss. Das war der Tag, an dem der Wächter sein Leben aushauchte.
    Anevay lief nicht, sie stolperte mehr. Ihr Atem saugte Glasluft. Ihre Haut spürte Glaswände. Und dann, ganz plötzlich, war sie nur noch zur Hälfte da. Das rechte Bein knickte weg, sie stürzte, dann lag A da, sah keuchend hinauf zur Glasdecke, irgendwo weit über ihr. Ohne Sterne, ohne Wind. Sie war der Ruhelose Wolf, der niemals ankam, der immer nur rannte und sie war der Wolf, der nur zur Hälfte sichtbar war. Die eine Seite aus Fell, die andere aus Stein. Verborgen von einem Baum - aus schwarzem Glas. Tränen fielen aus ihren Augen, gläserne Tränen. Ein Brüllen riss sich von

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