Das Locken der Sirene (German Edition)
konnte unmöglich den Rest des Tages damit verbringen, sich wegen Nora Vorwürfe zu machen. Er lief aus dem Haus und machte auf dem Weg zum Bahnhof nur einen kurzen Zwischenhalt. Schon bald stand er vor Noras Tür und suchte nach den richtigen Worten. Er wollte, dass sie auf Anhieb richtig klangen, damit sie wusste, dass er es ernst meinte, wenn er sagte, wie leid es ihm tat. Aber er wusste, dass sich etwas zwischen ihnen ändern würde, wenn er aus einem anderen Grund als wegen des Buches ihr Haus betrat. Zach machte einen Schritt auf die Tür zu, aber sie wurde geöffnet, ehe er klopfen konnte. Wesley stand vor ihm, ein schiefes, leicht süffisantes Grinsen im Gesicht.
„Nora hat gesagt, ich soll Sie reinlassen. Sie meint, Sie sehen aus, als fangen Sie langsam an zu frieren.“
„Darf ich sie bitte sehen?“
Wesley machte einen Schritt zurück und ließ Zach herein.
„In ihrem Büro“, sagte Wesley. „Sie schreibt.“
Zach folgte Wesley ins Büro und erinnerte sich, wie vollkommen anders alles bei seinem ersten Besuch vor drei Wochen gewesen war. Damals war er mit dem festen Entschluss hergekommen, Nora und ihr Buch irgendwie loszuwerden. Jetzt stand er kurz davor, sie anzuflehen, ihrer Zusammenarbeit noch eine Chance zu geben.
Ehe sie die Tür zu Noras Büro erreichten, blieb Wesley stehen und drehte sich zu Zach um.
„Wissen Sie, Ihre Meinung bedeutet ihr mehr als alles andere“, sagte er. „Ich kam heute mit ihr von der Signierstunde nach Hause, und mir war kotzübel. Sie hingegen ging einfach in ihr Büro und hat sich wieder an die Arbeit gemacht.“
Zach nickte. Dieses neunzehnjährige Kind demütigte ihn.
„Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen. Wenn sie mich lässt.“
„Sie wird Sie lassen. Vielleicht sollte sie das lieber, aber sie wird es tun.“
Wesley klopfte an Noras Bürotür und trat ein, ohne auf ihre Antwort zu warten.
„Nor? Hast du eine Minute?“
Nora saß in einem schwarzen Männerpyjama aus Seide an ihrem Schreibtisch. Das Haar hatte sie mit zwei Kugelschreibern am Hinterkopf zu einem Dutt gesteckt. Sie hämmerte wie verrückt auf ihre Tastatur ein und machte sich nicht einmal die Mühe, den Blick zu heben.
„Was machst du noch hier, Wes? Ich dachte, du hättest heute diese Veranstaltung in der Kirche.“
„Ja … ich bin heute als Aufpasser für die Kids aus der Mittelstufe eingeteilt.“ Wesley ging um den Schreibtisch herum und stellte sich hinter ihren Stuhl. „Aber nach dem heutigen Tag lasse ich dich nicht allein …“
„Oh doch, das wirst du. Du gehst und passt auf, dass die Kids nicht im Wandschrank rummachen. Sexuelle Zügelung muss so früh wie möglich anfangen. Ab mit dir, Wes. Du verdienst es, eine Nacht lang von meinen Dramen verschont zu werden.“
„Bist du sicher?“ Wesley legte die Hände auf Noras Schultern und zog den Stuhl zu sich zurück. Sie lehnte den Kopf gegen seinen Bauch und blickte zu ihm auf.
„Ja. Geh, und hab ein bisschen Spaß. Du hast es dir verdient.“
„Wenn du mich gehen lässt, esse ich vielleicht Pizza“, warnte er sie lächelnd.
„Ein Stück.“ Sie hob den Arm und wedelte mit dem Zeigefinger vor seiner Nase herum. „Eins.“
„Und wenn die Pizza nur eine ganz dünne Kruste hat? Das sind dann viel weniger Kohlenhydrate.“
„Hm …“ Sie hielt einen zweiten Finger hoch. „Zwei. Aber nicht mehr, hörst du?“
„Ja, Ma’am. Ich bin morgen früh wieder zu Hause. Zach?“ Zach drehte sich zu Wesley um, der ihn entschlossen anschaute. „Sie werden heute Abend auf Nora aufpassen, okay?“
„Wes, mir geht’s gut“, widersprach Nora. „Du warst derjenige, der letzte Woche im Krankenhaus gelandet ist. Ich habe schon weit Schlimmeres überlebt als das, was da heute passiert ist.“
„Tja, schön für dich, aber ich nicht“, sagte Wes. Er berührte Noras Schulter, und für einen kurzen Moment lehnte sie den Kopf gegen seine Hand. Wesleys Berührung und Noras Reaktion waren leichtherzig und keusch, aber Zach hatte das Gefühl, Zeuge von etwas sehr Privatem zu sein. „Bis später.“
„Pass auf dich auf“, sagte sie. „Es könnte heute Nacht wieder schneien.“
Wesley ließ sie allein, und Nora fing wieder an zu tippen. Zach wartete nicht auf eine Einladung, denn die würde wahrscheinlich nicht kommen. Er setzte sich in den Sessel vor dem Schreibtisch und beobachtete sie. Er hörte, wie die Haustür geöffnet wurde und ins Schloss fiel. Wesleys Wagen startete und fuhr rückwärts aus der
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