Das Los: Thriller (German Edition)
einigen Minuten, in denen nichts geschah, zog Calzabigi sich mit vorsichtigen Schritten zurück. Schon hatte er rückwärts einige Meter hinter sich gebracht und den in der Abendsonne dösenden König mit der Hündin im Schoße zurückgelassen, als die Hündin ruckartig den Kopf hob und witternd in Calzabigis Richtung starrte. Knurrend begann sie mit den Lefzen zu zittern, bis Calzabigi endlich in den Ehrenhof einbog und so aus ihrem Sichtfeld verschwand.
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H AMBURG , S ANTA F U
Das Büro des Gefängnisdirektors war schlicht eingerichtet, und dies beruhigte Henri. Es war eine seiner Überlebensstrategien im Knast, sich vorzustellen, dass die Justizbeamten – und allen voran der Direktor – jeden Tag hinter denselben Mauern zubrachten wie er, und zwar freiwillig. Und verglich er seine beiden Zellen mit dem Amtszimmer des Leiters, vor dessen abgenutztem Schreibtisch er nun saß, so hauste er in diesem Gefängnis sogar komfortabler.
Der Direktor hieß Schulze, wurde von den Insassen jedoch nur Meier genannt. Die kleine Welt der Gefangenen brachte die eigenwilligsten Bezeichnungen für Essen, Personen und Gegenstände mit sich, und keiner konnte mehr genau sagen, woher sie stammten. Schulze alias Meier war knapp fünfzig und, seit Henri einsaß, bereits der vierte Anstaltsleiter. Alle paar Jahre musste der Direktor wegen irgendeines Skandals oder einem Parteiwechsel in der Bürgerschaft gehen. Schulze maß beinahe zwei Meter, trug einen Seitenscheitel, breit wie eine Autobahn, und wirkte stets ein wenig unglücklich. Im Umgang mit den Gefangenen war er ebenso kurzärmelig wie seine Hemden und somit deutlich entspannter als sein Vorgänger. Aber Henri wusste auch, dass er gefährlich werden konnte, wenn man ihn herausforderte. Einige Gefangene waren bereits wegen geringer Vergehen von ihm sehr hart bestraft worden. Auch Henri hatte einmal einen Wochenendeinschluss kassiert, als er sich über die Position des Bettes, das zu nahe an der Toilette stand, beschwert und gefordert hatte, dass es unter das Fenster gestellt werden sollte. Seitdem war er auf der Hut.
»Zigarette?«, fragte der Direktor und hielt ihm ein Lederetui entgegen, aus dem eine Zigarette herausragte.
Henri nahm eine und bugsierte sie mit dem Mund in die Flamme des Feuerzeugs, das der Direktor ihm entgegenstreckte. Das Feuerzeug hatte die Form einer Handgranate und war in der Anstalt legendär. Einst hatte ein Insasse damit eine Geiselnahme versucht, nun stand es wie eine Trophäe auf Schulzes Schreibtisch.
»Habe ich was falsch gemacht?«, erkundigte sich Henri, nachdem er einen tiefen ersten Zug genommen hatte.
»Offensichtlich, sonst säßen Sie ja nicht im Gefängnis«, antwortete der Direktor schmunzelnd, der nun seinerseits mit einer Zigarette in der Hand in seinem Bürostuhl lehnte. »Nein, ich habe Sie aus einem anderen Grund herkommen lassen. Haben Sie schon von dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gehört?«
Henri zuckte mit den Schultern.
»Habe ich mir gedacht. Ich glaube, Sie sind der einzige Häftling in Deutschland ohne Fernseher.«
»Die einzige noch erlaubte Folter für Strafgefangene: vierundzwanzig Stunden Fernsehprogramm«, spottete Henri, wurde dann jedoch sofort wieder ernst: »Was für ein Urteil meinen Sie?« Wenn Schulze ihn wegen eines Urteils einbestellte, musste es etwas mit ihm zu tun haben.
»Die in Brüssel sind der Auffassung, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung gegen die Menschenrechte verstößt.«
»Straßburg«, korrigierte Henri ihn. »Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sitzt in Straßburg.«
Schulze winkte verächtlich ab. »Ihr Juristen seid Klugscheißer. War aber wohl eine ziemliche Überraschung, bis zuletzt hat niemand mit so einem Spruch gerechnet. Jedenfalls gibt es jetzt eine geplante Gesetzesänderung, mit der die ganze Sicherungsverwahrung neu geregelt werden soll. Für Vermögensdelikte soll sie sogar ganz abgeschafft werden, auch rückwirkend.«
Einen Augenblick schwiegen beide und zogen an ihren Zigaretten. Langsam blies Henri den Rauch durch die Nase.
»Heißt das, ich komme raus?«, fragte er schließlich. Sein Herz begann zu wummern. Ihm kamen die Worte des Mönchs in den Sinn. Was hatte der zu ihm gesagt? Vertrau dem Herrn. Du wärst nicht der erste Gefangene, den er in die Freiheit führt …
»Vielleicht. In absehbarer Zeit«, antwortete der Direktor und beugte sich vor, um die Zigarette an einem Aschenbecher abzustreifen, auf dem in
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