Das Los: Thriller (German Edition)
motivierter zu Werke geht. Wenn wir dieses kleine Problem hier nun noch lösen … dann kann das Glück gar nicht anders, als auch endlich zu uns zu kommen!« Calzabigi sprach mit einem Eifer, als läge nicht der kleine Waisenknabe neben ihm, sondern Marie höchstpersönlich.
»Es kommt daher, weil Ihr versucht, das Glück zu kaufen, statt es Euch vor Gott zu verdienen, sagt sie«, bemerkte Charles unbeeindruckt von Calzabigis Rede, während er sich bemühte, das Insekt zurück auf den Stock zu bugsieren.
Calzabigi öffnete den Mund und schloss ihn wieder, dann starrte er auf Charles’ Spiel mit dem Grashüpfer, der sich jetzt mit aller Kraft an einen Grashalm klammerte.
Er hob ein wenig den Kopf und lauschte angestrengt. Wieder war nur der Wind in den Wipfeln der Bäume zu hören.
»Und meinst du, sie ist glücklich?«, fragte Calzabigi schließlich leise. Er fürchtete sich vor der Antwort.
Der Junge zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung«, antwortete er. Dann zögerte er, bevor er sich Calzabigi zuwandte und die Stimme senkte, als verrate er ein Geheimnis: »Sie weint oft!«
»Sie weint oft?«, wiederholte Calzabigi entsetzt.
Charles nickte. »Nach dem Karnevalsball, da war sie glücklich. Hat den ganzen Tag gelacht und gescherzt … Oh je, was habe ich getan!«, rief er plötzlich aus. Während er gesprochen hatte, war ihm der Stock weggerutscht, und er hatte versehentlich den Grashüpfer mit der Spitze getötet.
»Mmhh, ich glaub, jetzt ist er nicht mehr am Leben!«, bemerkte Charles mit großem Bedauern, während er mit dem Stock das Tier anstieß, da er hoffte, es wäre nur verletzt und noch nicht tot.
»Es kommt jemand!«, wisperte eine Stimme von hinten.
Tatsächlich näherte sich auf der Straße, über die auch sie hergeritten waren, ein Pferd. Auf ihm saß ein gut gekleideter Mann, dessen Gesicht unter der Krempe eines überdimensionalen Huts nicht zu erkennen war. Ein lautes »Brrrr« ließ das Pferd erst kurz vor der Futterstation langsamer werden, und der Reiter sprang ab, noch bevor es zum Stehen kam. Mit geübtem Griff band er das Pferd an und verschwand mit eiligem Schritt in der Poststation.
»Jetzt oder nie!«, krächzte Calzabigi und kam aus der Deckung.
Mit ihm erhoben sich aus dem Schatten des Grases acht Gestalten und näherten sich lautlos dem Eingang der Poststation.
46
H AMBURG
Trisha schaute sich hilfesuchend zur Tür um. Dieser Fluchtweg stand ihr jederzeit offen. Mit zitternder Hand griff sie nach dem Mobilteil des Hoteltelefons, ohne dabei den Mann im Sessel aus den Augen zu lassen. Ihr Daumen wanderte auf die 0, die mittels eines Aufklebers als Verbindung zum Empfang gekennzeichnet war.
Der Fremde schien keine Anstalten zu machen, sich zu erheben. Soweit Trisha im Halbdunkeln des Zimmers erkennen konnte, ruhten seine beiden Arme auf den Sessellehnen. Es schien so, als ob er schlafen würde. Eine Waffe oder Ähnliches war nicht zu sehen.
Sie legte das Telefon an ihr Ohr und lauschte dem Freizeichen.
»Leg auf, ich tue dir nichts«, sagte der Mann.
Seine angestrengte Art zu sprechen verriet, dass er nicht ganz bei Kräften war. Vielleicht ein Betrunkener, der sich in ihr Zimmer verirrt hatte?, dachte Trisha. Jedenfalls würde sie ihn von der Security entfernen lassen.
Wieder ertönte das Freizeichen. Wann ging endlich jemand ran?
»Mein Name ist Henri Freihold. Ich habe gehört, du suchst mich. Ich vermute, wegen dieser Lotterie«, sagte der Mann mühsam und hustete einmal.
»Rezeption. Was kann ich für Sie tun?« Eine freundliche Stimme meldete sich am Telefon.
Trisha zögerte mit der Antwort. Sie trat einen Schritt zur Seite und betätigte einen Lichtschalter.
Ein Deckenfluter und mehrere im Schrank eingebauten Strahler erhellten das Zimmer. Nun konnte Trisha das Gesicht des Mannes erkennen. Die hohe Stirn wurde durch akkurat geschnittene, dunkle Haare begrenzt. An den Schläfen schimmerten sie grau. Ein ebenfalls leicht silbrig changierender Dreitagebart verbarg kantige Wangenknochen. Trotz der ersten Anzeichen des Alters hatten die Gesichtszüge sich etwas Jugendliches bewahrt. Die hellblauen Augen blickten freundlich, aber erschöpft. Gekleidet war der ungebetene Besucher in einen dunkelgrünen Trainingsanzug, der keiner bekannteren Marke zuzuordnen war und eher zweckmäßig als modisch wirkte. Der Mann sah ein wenig wie ein Banker im Campingurlaub aus, jedoch nicht unattraktiv. Er verzog schmerzvoll das Gesicht und fasste sich mit der Hand an die
Weitere Kostenlose Bücher