Das Los: Thriller (German Edition)
Ich glaube, unsere Konversation ist beendet.« Nach diesen Worten erhob er sich.
»Eins noch!«, warf Calzabigi schnell ein.
Hainchelin sank zurück in seinen Sessel. »Etwa noch ein Gedicht?«
Calzabigi schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, etwas anderes. Ihr erinnert Euch sicherlich noch daran, wie wir vor über einem Jahr hier saßen und Ihr mir den Umschlag mit dem Vorschlag des Königs zu meiner Gewinnbeteiligung überreicht habt?«
»Ihr wolltet ihn nicht öffnen«, antwortete Hainchelin.
»Genau. Und deswegen bin ich hier. Nun, wo die Lotterie erstmals wirklich Gewinn abwirft und die Kasse gut gefüllt ist, möchte ich erstmals meine Beteiligung einfordern und bitte Euch, das Siegel zu brechen und nachzuschauen, wie viel der König mir zugebilligt hat.«
»Dies steht Euch zu«, sagte Hainchelin ohne Umschweife, erhob sich und ging zu seinem Sekretär.
Er öffnete ein Fach, dann ein anderes, bis er schließlich mit dem Umschlag zurückkehrte und ihn überreichte. Calzabigi öffnete den Umschlag und entnahm ein Dokument, das mit dem Wappen des Königs versehen war. Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht, nachdem er den Text gelesen hatte. Er drehte das Blatt, sodass Hainchelin einen Blick darauf werfen konnte. Das Zucken seiner Augenlider verriet dessen innere Erregung.
»Ich werde veranlassen, dass Euch Euer Anteil ausgezahlt wird«, bemerkte Hainchelin zerknirscht.
»Ich danke Euch«, sagte Calzabigi zufrieden.
»Allerdings«, ergänzte Hainchelin, »kann ich Euch selbstverständlich nur in schlechtem Geld bezahlen. Es wäre dem König kaum zu erklären, wenn Ihr als Generaldirektor ausgerechnet das gute Geld aus der Kasse entnehmen und ihm das schlechte überlassen würdet, welches vielleicht schon bald gar keinen Wert mehr haben wird …«
Calzabigi stutzte. Er suchte nach einem passenden Argument, fand jedoch keines. Jedes Widerwort hätte sich gegen den König gerichtet, und das durfte er sich gegenüber diesem Intriganten nicht erlauben.
»Ich habe mit nichts anderem gerechnet …«, sagte er schließlich.
Hainchelin klatschte in die Hände. »Dann danke ich Euch, dass Ihr die Frühlingsstimmung in mein Haus gebracht habt. Lasst uns mit Friedrich von Hagedorn, den Ihr so freundlich ward zu zitieren, auseinandergehen:
Es spielen Luft und Laub; es spielen Wind und Bäche;
Dort duften Blum’ und Gras; hier grünen Berg und Fläche;
Das muntre Landvolk tanzt; der Schäfer singt und ruht:
Die sichern Schafe weiden,
Und allgemeine Freuden
Erweitern gleichfalls mir den Muth!«
Calzabigi starrte ihn an. Niemals zuvor hatte eine Strophe über den Frühling eine so düstere Wirkung auf ihn entfaltet.
Als er kurz darauf die Straße betrat, schien der Frühling verschwunden. Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Ein leichter Wind war aufgekommen und wehte eine Handvoll Laub an ihm vorbei. Jetzt erst fiel ihm auf, wie kühl es noch war.
52
N EW Y ORK C ITY
Seit über einer Stunde beobachtete Carter, wie sein Blut durch diese Maschine lief.
Seine größte Befürchtung der vergangenen Monate war es gewesen, verhaftet zu werden. In einem Gefängnis zu sitzen oder mit elektronischen Fußfesseln durch Manhattan zu laufen. Doch dies hier war weitaus schlimmer: Dreimal die Woche sollte er sich nun an dieses Ding anschließen lassen, durch welches sein Blut floss, um gereinigt wieder in ihn hineingepumpt zu werden.
Er fühlte sich wie in einem Science-Fiction-Film. Vermutlich war er Teil eines riesigen Komplotts. Versuchskaninchen einer verrückten Wissenschaft. Ihm, dem scheinbar gierigsten aller Banker, reinigten sie das Blut von seinen Sünden. Versuchten, die Gier herauszuwaschen und es anschließend, rein von jeglichen Finanzblutkörperchen, wieder in ihn zurückfließen zu lassen. Wenn es so war, dann scheiterte das Experiment. Niemals zuvor in seinem Leben war ihm so bewusst gewesen, wie wichtig Geld war. Damit würde er sich schon bald eine neue Niere kaufen: ein leistungsstarkes Organ, besser als sein eigenes. Er hatte schon Kontakt nach Asien aufgenommen. Für zweihunderttausend Euro hätte er sogar ein Herz kaufen können. Nieren waren viel billiger. Dann konnten all die Ärzte hier ihn mal kreuzweise.
Und alles hatte er diesem feigen Wichser zu verdanken, der aus dem Hinterhalt auf ihn geschossen hatte. Die Polizisten hatten Carter vernommen, ein paar Patronenhülsen aufgesammelt. Irgendein Obdachloser hatte geholfen, ein Phantombild zu zeichnen – von einem Kerl, der
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