Das Los: Thriller (German Edition)
keiner meiner vielen Vorfahren hatte jemals die Erlaubnis, es zu öffnen. Doch heute ist es endlich soweit.«
Fast klang er gerührt. Er hob ein Holzkästchen in die Höhe, das er zuvor auf seinem Schreibtisch platziert hatte. Es erinnerte Trisha an einen Humidor zur Aufbewahrung von Zigarren, wie er häufig in Hotelbars stand. Auf der Oberseite war eine hellbraune Intarsie im ansonsten dunklen Holz zu erkennen, die offenkundig ein imposantes Wappen darstellte.
»Wie Sie sehen, ist das Siegel unverletzt«, bemerkte der Notar und deutete auf einen kreisrunden Klecks Wachs am Rand der Schatulle. Darin waren die Umrisse desselben Wappens wie auf dem Deckel zu erahnen.
Trisha merkte, wie sie die Luft anhielt. Beim Anblick dieser kleinen, jahrhundertealten Kassette bekam sie eine Gänsehaut.
»Was ist in dem Kästchen – etwa der Preis?«, erkundigte sich Fields ein wenig besorgt.
»Warten Sie es ab!«, wies der Notar ihn zurecht. »Bevor ich es nun öffne, stelle ich offiziell fest, dass am heutigen Tag um sechzehn Uhr siebzehn als Teilnehmer der Lotterie Signorina Trisha Wilson, Signore Carter Fields und Signore Henri Freihold anwesend sind. Sie alle sind gewinnberechtigt. Wenn ich Sie um Ihre Pässe bitten dürfte?«
Alle drei holten aus ihren Taschen Ausweisdokumente hervor, die sie dem Notar reichten. Aurelio prüfte jedes einzelne sorgfältig. Als er sich den Ausweis von Henri Freihold anschaute, wanderte sein Blick mehrmals zwischen dem Dokument und Verbeeck hin und her. »Das Bild hier weist keine große Ähnlichkeit mit Ihnen auf«, bemerkte er skeptisch.
Verbeeck lachte. »Es gibt einen Künstler, der Vorher- und Nachherbilder von Menschen anfertigt, die im Gefängnis saßen. Kennen Sie den?«
Aurelio schüttelte den Kopf, dann händigte er erst Verbeeck und dann den anderen die Dokumente wieder aus.
»Ich notiere, dass ich die Identitäten zweifelsfrei festgestellt habe.«
Trisha atmete tief durch. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Verbeecks Anwesenheit ihre Chancen erheblich senkte. Gestern hatte sie nur ihren Verrat an Henri wiedergutmachen wollen. Jetzt, wo sie so dicht vor diesem unbeschreiblichen Gewinn stand – sie unter Umständen nur noch Minuten davon trennten –, ergriff etwas Besitz von ihr, was sie von ihren Anfängen am Pokertisch kannte. Sie räusperte sich, als könne sie es wie einen kleinen Frosch im Hals loswerden. Doch es nützte nichts. Sie fühlte sich wie elektrisiert. Was, wenn sie Verbeeck verraten würde? Er war nicht berechtigt, hier als Henri Freihold anwesend zu sein. Aurelio und Fields würden ihr dankbar sein, wenn sie die Täuschung aufdeckte. Der Notar hatte bereits stark gezweifelt, das war deutlich zu sehen gewesen. Er hatte sich offensichtlich – aus welchen Gründen auch immer – nur nicht getraut, weiter nachzuhaken.
Wenn Verbeeck des Zimmers verwiesen war, würden ihre Chancen fifty-fifty stehen. Wenn sie anschließend gewann, konnte sie sich dann immer noch überlegen, ob sie Henri etwas von ihrem Gewinn abgeben würde. Auch Verbeeck könnte von ihr für die Blamage eine kleine Aufwandsentschädigung erhalten. Und falls Pradeep noch lebte, würde sie auch ihn mit einem netten Sümmchen aus ihrem Gewinn bedenken. Vielleicht konnte so seine Tochter sogar noch gerettet werden. Im Prinzip war nichts Schlechtes an dem, was sie sich gerade überlegt hatte.
Sie atmete erneut tief durch. Adrenalin hatte von ihrem Körper Besitz ergriffen, ganz so wie im Heads-Up mit einem Bluff auf der Hand. Nur dass hier nicht sie es war, die bluffte. Hitze stieg in ihr auf. Sie blickte zu den beiden Männern neben ihr, die erwartungsvoll dem Notar entgegenstarrten, der noch immer mit irgendwelchen Dokumenten beschäftigt war. Etwas rang in ihr. Aufgeregt tippte Trisha mit ihren Fingern auf der Stuhllehne, trommelte einen einfachen Rhythmus. Als sie es bemerkte, schloss sie ihre Hand zur Faust. Dann fasste sie nach dem Glücksbringer an ihrem Hals.
Sie griff ins Leere.
Hektisch tastete sie mit ihrer Hand das Dekolleté ab, doch dort, wo zuletzt der Anhänger mit dem Schutzengel von Grandma an der Halskette gebaumelt hatte, war nun nichts mehr. Ein seltsames Gefühl von Ohnmacht erfasste sie. Sie musste ihn beim Kampf mit Chad verloren haben. Plötzlich fühlte sie sich verlassen. Merkwürdigerweise nicht vom Glück, sondern von ihrer Familie, von allen Menschen, die sie liebte. Jetzt, wo der kleine Schutzengel fort war, fühlte sie, dass der Anhänger sie bislang auf magische
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