Das Los: Thriller (German Edition)
nahm. Die helle Vormittagssonne hatte sie nach ihrem langen Aufenthalt in dem dunklen Fahrstuhl geblendet. Die Hand schützend vor den Augen, war sie nach dem Verlassen des Hotels in die nächste Bar geflüchtet. Das Lokal war nur einen Häuserblock entfernt und warb mit dem blinkenden Schriftzug Lucky Looser um Gäste.
Erst als sie an dem langen Tresen Platz nahm, bemerkte sie, dass sie sich in einer Striptease-Bar befand. Selbst zu dieser Zeit – am frühen Vormittag – war sie nicht der einzige Gast. Ein paar Hocker neben ihr schien ein Mann, dessen Gesicht auf dem Tresen lag, fest zu schlafen. Vom Ende der Bar starrte sie ein Mann im Anzug aus wässrigen Augen an, ein halb leeres Bierglas vor sich.
Trisha bestellte beim Barkeeper, der mit der Reinigung der Zapfanlage beschäftigt war, einen Gin Tonic. Sie blickte zur kleinen Showbühne, die wie ein Bootssteg mitten in den Raum hineinragte; davor standen Tische und Stühle, die jetzt alle unbesetzt waren. Offenbar war gerade eine Tänzerin mit dem Training für die allabendliche Show beschäftigt. Das noch junge Mädchen, bekleidet mit einem rosa Trainingsanzug, räkelte sich in einem riesigen Cocktailglas und arbeitete mit tatkräftiger Hilfe eines Mannes, der auf einer Kiste daneben stand, an der korrekt erotischen Stellung ihrer Beine. Fast sah es so aus, als wollte der Mann die Tänzerin in dem Glas besteigen.
Trisha nippte an ihrem Getränk. Die skurrile Szene erinnerte sie daran, dass sie selbst in einem Glas gezeugt worden war. Nicht in einem zwei Meter großen Cocktailglas, sondern in einem Reagenzglas. Nachdem ihre Mutter viele Jahre lang vergeblich versucht hatte, schwanger zu werden, und dann eine Fehlgeburt erlitt, hatten ihre Eltern sich schließlich für eine künstliche Befruchtung entschieden. Mehrere Versuche scheiterten, und gerade als ihre Eltern wegen der geringen Erfolgsaussichten aufgeben wollten und sich schon damit abgefunden hatten, kinderlos zu bleiben, tauchte eines Tages doch noch Trishas kleines Herz auf dem Ultraschallbild auf. Für ihre Eltern war ihre Geburt ein wahres Wunder. Und so hatten ihre Eltern sie auch stets behandelt: wie einen nicht für möglich gehaltenen Lotteriegewinn, von dessen täglichen Zinsen sie fortan lebten.
Selbst als sie schon zwölf Jahre alt war, hatte sie ihre Mutter gelegentlich dabei überrascht, wie diese sie mit verträumtem Blick und einem seligen Lächeln betrachtete, so als stünde sie einem Einhorn auf einer einsamen Waldlichtung gegenüber. Trisha konnte es nicht in Worte fassen, aber dieses Unwirkliche, was ihre Eltern stets in ihr gesehen hatten, hatte sich mit der Zeit auch auf sie übertragen. Als Teenager überkam sie manchmal die plötzliche Angst, nicht real zu sein – nur als ein Hirngespinst ihrer in Wirklichkeit kinderlosen Eltern zu existieren. Und als dieses merkwürdige Gefühl auch vor dem großen Spiegel, der an der Innentür ihres Kinderzimmers angebracht war, nicht verschwinden wollte, begann sie mit vierzehn, sich mit einer Rasierklinge in den rechten Unterarm zu schneiden. Der Schmerz, den sie dabei empfand, schien ihr damals der einzige Beweis für ihre Existenz.
Die Tänzerin war nun, assistiert von ihrem Choreografen, aus dem überdimensionierten Glas herausgestiegen und absolvierte einige Übungen auf dem Boden, die Trisha eher an ein gymnastisches Training erinnerten. Sie nahm einen weiteren Schluck und schaute auf ihren Unterarm. Die lange verheilten Narben zogen sich kreuz und quer über die Unterseite. Mit viel Fantasie konnte man darin eine fast verblasste Landkarte erkennen. Sie schob den Ärmel ihrer Bluse nach oben und blickte auf zwei in den Oberarm tätowierte Spielkarten. Herz-König und Herz-Dame. Es war ihre einzige Tätowierung, und sie hatte sie nach einer durchzechten Nacht gemeinsam mit Chad in Paris stechen lassen. Er trug seitdem die gleiche Tätowierung auf seinem Arm.
Ihre Gedanken wanderten zu Chad und den Ereignissen in dem Hotelzimmer. Bei der Vorstellung, wie sie die Brüste der anderen Frau mit den ihren berührt hatte, stellten sich ihre Brustwarzen auf, und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Am liebsten hätte sie sich geduscht oder in dem Cocktailglas auf der Bühne ein intensives Bad in allem Alkohol genommen, der in der Bar verfügbar war. Dieser Wunsch verstärkte sich noch, als sie versehentlich gedankenverloren in das Gesicht des wachen Mannes am Tresen blickte. Er starrte sie immer noch ungeniert an und schenkte ihr nun ein
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