Das Los: Thriller (German Edition)
Waffeln vermischte sich hier mit dem Duft von Freiheit. Eben noch umringt von Mitgefangenen, stand Henri plötzlich allein da. Alle anderen waren unter lautem Gejohle oder aber mit tränenersticktem Schweigen zu einem der zwei Dutzend Vierertische gestürmt und hatten sich mit den wartenden Eltern, Geschwistern, Frauen und Kindern vereint. Irgendwo weinte ein Baby. Henris Blick fiel auf die kleinen Täfelchen mit Nummern, die auf den einzelnen Tischen standen, und im nächsten Moment nahm er die Zahl »16« wahr und dahinter eine Gestalt, die einen braunen Morgenmantel zu tragen schien.
Während Henri sich einen Weg zwischen den Tischen bahnte, vorbei an tuschelnden, weinenden und auch streitenden Pärchen und Grüppchen, schien der Besucher, der an dem Tisch Nr. 16 auf ihn wartete, immer kleiner zu werden. Als Henri endlich vor ihm stand, fiel sein Blick tatsächlich auf einen kleinen Mann in einer braunen Mönchstracht. Die Schultern säumte ein Überwurf, der sich nach hinten zu einer Kapuze ausweitete, darunter trug der Ordensbruder eine gleichfarbige Tunika. Weder hatte er je zuvor einem Mönch gegenübergestanden, noch hatte er jemals darum gebeten, von einem besucht zu werden. Es musste sich um ein Missverständnis handeln. Vielleicht gehörte der Besucher aber auch zu einer obskuren Sekte, die versuchte, Sünder auf den rechten Weg zu bringen.
Er hätte nicht hierherkommen sollen. So nah an der Schwelle nach draußen – dort, wo der Knast am durchlässigsten war – überkam ihn urplötzlich ein ungutes Gefühl. Zu groß war seine Überraschung gewesen, als der Wachhabende ihn zu sich gerufen und von einem Besucher für ihn berichtet hatte. Die Neugierde hatte ihn hierhergetrieben. Doch nun, wo er auf diese merkwürdige Erscheinung vor sich hinabblickte, verspürte er den Drang, auf der Stelle kehrtzumachen und zurück in seine Zelle zu marschieren.
»Dreißig Jahre seit unserem letzten Treffen … und du bist immer noch unfrei!«
Henri zuckte beim Klang der Stimme unwillkürlich zusammen. Sie hatte ein dunkles Timbre, und der Mönch sprach Deutsch mit einem fremdländischen Akzent. Doch jedes der Worte hatte bei Henri gewirkt wie die Strophe eines lange nicht mehr gehörten Kinderliedes. Ohne sich zu setzen, das Stück Pappe mit der Zahl fest umklammert, starrte Henri in das Gesicht des sonderbaren Besuchers. Der Anblick des vielleicht sechzigjährigen Mönchs mit Glatze, kugelrundem Kopf, pausbäckigen Wangen und wachen Knopfaugen unter borstigen Brauen vermischte sich mit dem Erinnerungsbild eines sehr viel jüngeren Mannes von gleicher Statur. Irritiert schüttelte Henri den Kopf.
»Setz dich, Henri!«, forderte der Mönch ihn auf und lächelte ihn an.
Henri ließ sich auf dem leeren Stuhl ihm gegenüber nieder. »Ich … ich kenne Sie«, stammelte er. »Da … da waren Sie noch … jung.«
Das Lächeln des Mönchs verströmte eine große Güte, die sich sofort in Henris Herz einzunisten versuchte.
»Du warst noch jung«, erwiderte der Klosterbruder. »Keine zwölf Jahre alt. Ich besuchte deinen Vater in Chemnitz. Ich glaube, damals hieß dieser Ort noch Karl-Marx-Stadt.« Der Mönch rollte das »R« wie ein Italiener.
Henri empfand es als komisch, dass der Fremde ihn duzte. Als wäre er immer noch ein Kind. Weitere blasse Bilder stiegen in ihm auf: die Wohnung seiner Eltern in einem der Plattenbauten am Stadtrand. Wie er an einem Nachmittag als kleiner Junge an der Tür zum Wohnzimmer gelauscht hatte. Die zunächst aufgeregte, dann empörte Stimme seines Vaters. Der vollkommen ruhige und immer noch freundliche Blick, den der junge Mönch dem Kind zugeworfen hatte, als sein Vater ihn aus dem Wohnzimmer und schließlich aus der Wohnung geschoben hatte. Das wütende Zuknallen der Haustür.
»Er hat Sie rausgeschmissen«, bemerkte Henri, in Erinnerungen versunken.
Der Mönch nickte mit ernster Miene. »Sein gutes Recht. Auch wenn er gegen den Staat war, so war er doch überzeugter Sozialist. Er hatte kein Interesse an dem Angebot, das ich ihm unterbreitete.«
Dies alles verwirrte Henri immer mehr. Er hatte lange nicht mehr an seine Kindheit gedacht und auch nicht an seinen Vater. Die meiste Zeit hatte sein Vater in Gefängnissen verbracht. Unter anderem wegen der Fluchtversuche, die sie unternommen hatten. Nur wenige Wochen nachdem der junge Mönch sie damals aufgesucht hatte, waren sie ausgewiesen worden, und er, Henri, war im Westen aufgewachsen.
»Und nun bin ich hier, um das gleiche
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