Das Los: Thriller (German Edition)
unterhielt. Zehn Jahre war es her, dass Gotzkowsky die Fabrik seines Vaters besichtigt hatte. Calzabigi, der ausgerechnet an diesem Tag bei seinen Eltern zu Besuch gewesen war, hatte den preußischen Handelsreisenden höchstpersönlich durch die Fabrikanlagen geführt. Gotzkowsky war damals nach Livorno gekommen, um das Patent der Herstellung von Seife aus Olivenöl ohne Feuer zu erwerben. Die Herstellung ohne das Sieden der Seifenmasse war aufwändiger und dauerte länger, das Produkt jedoch edler, härter und ergiebiger. Calzabigi hatte dem Gast das Rezept erläutert. Zehn Pfund Lauge, ein Pfund bestes toskanisches Olivenöl und ein Pfund geschabte Seife waren gut zu vermischen und mussten anschließend vierzehn Tage trocknen.
Auch Gotzkowsky schien den Besuch in Italien in guter Erinnerung behalten zu haben. Auf Calzabigis Anfrage aus London hatte er sich ohne Zögern bereit erklärt, ihn zu Beginn seines Aufenthalts in Berlin kostenfrei in seinem Gästehaus logieren zu lassen. Die Ausstattung des Apartments verriet den Reichtum des Gastgebers. Calzabigis Stolz, bei einem der wohlhabendsten Bürger der Stadt untergekommen zu sein, wich jedoch bald dem Schrecken, den die Neuigkeiten in ihm hervorriefen, die Gotzkowsky ihm vor einigen Tagen unter Tränen enthüllt hatte. Der Hausherr war vorbeigekommen, um seinem italienischen Gast die große Sammlung von Gemälden zu zeigen, die er in den obersten Stockwerken des Gebäudes verwahrte. Er hatte die Bilder – über hundert an der Zahl – im Auftrag des Königs gekauft, der sie in seinem Schloss in Sanssouci aufhängen wollte. Der Krieg hatte jedoch verhindert, dass der König die erworbenen Gemälde abnahm. Als Gotzkowsky davon zu sprechen begann, brach seine Stimme.
»Was habt Ihr?«, hatte Calzabigi sich verwundert erkundigt.
»Habt Ihr Euch schon einmal verspekuliert?«, fragte daraufhin Gotzkowsky, und als Calzabigi dies bejahte, erzählte dessen Gastgeber, dass er einen Großteil seines Vermögens in Getreidesilos in Russland investiert habe. »Es war mit steigenden Getreidepreisen zu rechnen. Doch nun machen Gerüchte von Friedensverhandlungen die Runde, und der Preis des Getreides sinkt und sinkt. Ich kann nicht verkaufen und muss, so widersinnig es klingt, darauf hoffen, dass der Krieg weitergeht!«
»Was ist mit Euren Fabriken? Eurer Porzellanmanufaktur? Der Seidenherstellung?«
»Wer kauft im Krieg, wo alles auseinanderbricht, Porzellan?«, entgegnete Gotzkowsky schluchzend.
»So bezahlt Eure Schulden mit den Gemälden hier«, schlug Calzabigi vor und deutete auf die Kunstwerke, die um sie herum an den Wänden hingen. Er verstand sich nicht auf den Kunsthandel, aber er erkannte ein anmutiges Bild, wenn er eines sah. »Verkauft die wenig bekannten Maler zuerst, wie diesen Rubens oder jenen Rembrandt dort«, riet Calzabigi. »Behaltet aber, wenn es geht, die alten Meister, wie Raffael oder Tizian.«
Gotzkowsky lächelte müde, erwiderte aber nichts darauf.
»Ich sage Euch zu, Euch zu unterstützen, wenn mein Lotto demnächst Gewinn abwirft«, hatte Calzabigi ihm noch tröstend versichert. Dass einer der reichsten Männer in Preußen vor dem Bankrott stand, hatte ihn zwar ernsthaft gerührt. Er deutete es aber auch als ein Zeichen, dass der Reichtum in dieser Stadt neu verteilt wurde. In letzter Zeit war er ohne allzu großes Glück an vielen Orten gewesen – jetzt aber schien es zum ersten Mal so, als wenn er zur richtigen Zeit am richtigen Ort war.
Das Haus von Hainchelin war mit einem kurzen Spaziergang durch das kalte Berlin zu erreichen. Calzabigi bog aus der Brüderstraße nach rechts ab, und vor ihm erhob sich das königliche Residenzschloss, wie es sich zur Breiten Straße hin präsentierte. Mit den beiden Eingangsportalen, den weit mehr als hundert Fenstern, die sich über drei Stockwerke verteilten, strahlte es etwas ähnlich Beschützendes aus wie der König selbst.
Wenig später hatte er die Adresse erreicht, die der Läufer ihm genannt hatte. Das Gebäude wirkte weit weniger repräsentativ als Gotzkowskys Haus. Der Stein war verwittert und die Farbe der Holztür längst verblichen. Auf Höhe des Schlosses waren notdürftig einige Beschläge angebracht, fast schien es so, als wenn sich schon einmal jemand gewaltsam Zutritt zu dem Haus verschafft hatte.
Der Kammerdiener, der auf sein Klopfen hin die Tür öffnete, schien im selben Zustand wie das Haus zu sein. Er war alt, sein rechtes Auge wurde von einer Augenklappe verdeckt, und er
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