Das Los: Thriller (German Edition)
zog sein linkes Bein hinterher. Vermutlich hatte er in jüngeren Jahren seine Gesundheit in einer Schlacht für den König geopfert.
Er führte Calzabigi in einen Raum im Erdgeschoss. Was der Diener ihm als Salon des Hauses vorstellte, erinnerte ihn eher an eine Lagerstätte für Möbelstücke aller Art. Man erkannte kein System in der Einrichtung, und Calzabigi überlegte schon, ob das gesamte Inventar des Gebäudes in diesem Raum vielleicht für einen Umzug zusammengestellt worden war, als der Hausherr erschien.
Hainchelin war ein hochgewachsener, schlaksiger Mann. Er trug eine Perücke, deren Anblick Calzabigi unvermittelt zum Lachen brachte: Sie erinnerte ihn tatsächlich eher an ein Huhn als an ein Haarteil. Nur mit Mühe gelang es ihm, den Mund unverzüglich wieder zusammenzupressen und seine Lippen zu einem liebenswürdigen Lächeln zu verziehen. Der Kopf mit dem blassen, ovalen Gesicht, aus dem Hainchelin ihn skeptisch musterte, hatte die Form eines riesigen Hühnereis. Ein Huhn, das auf einem Ei brütete, dachte Calzabigi, als er Hainchelin betrachtete. Der Hofrat ignorierte sein Schmunzeln und begrüßte ihn kühl.
Kurz darauf saßen die beiden Männer vor dem Kamin, in dem ein einzelner Holzscheit knisternd verglühte. Der Kaffee, den der betagte Diener zwischenzeitlich servierte, schmeckte nach Zichorie. Ganz offensichtlich waren dem Kaffeemehl die deutlich billigeren Zichorienwurzeln beigemengt worden. Calzabigi verzog das Gesicht und hätte das Gemisch in seinem Mund am liebsten wieder ausgespuckt. Nur mühsam bekam er es hinunter.
»Ihr seid also der Lotto-Graf«, sagte Hainchelin abschätzig auf Französisch. Er betonte die Silben derart ungewöhnlich, dass Calzabigi Probleme hatte, ihn zu verstehen.
»Eigentlich bin ich kein Graf«, stellte er irritiert richtig.
»Der König beabsichtigt, Euch mit Erteilung des Lotterie-Patents in den Adelsstand zu erheben«, klärte Hainchelin ihn auf.
Calzabigi fügte die soeben ausgesprochenen Worte seines Gastgebers im Geiste noch einmal neu zusammen. Als er sich sicher war, sie richtig verstanden zu haben, ergriff ihn innerlich eine große Hitze.
»Das ehrt mich außerordentlich«, stieß er hervor und versuchte dabei, seine Freude zu verbergen.
»Ich bin dagegen, aus jedem Bauerntölpel einen Adeligen zu machen«, bemerkte Hainchelin spitz.
Als Calzabigi empört protestieren wollte, hob Hainchelin die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, und fuhr fort: »Nichts anderes beabsichtigt Eure Lotterie. Wenn ich Euren Plan richtig verstanden habe, kann jedermann ohne Rücksicht auf Herkunft und Stand mit nur einem Taler Einsatz auf einen Gewinn in Höhe von einer Million vierhundertsiebenundfünfzigtausend Talern hoffen. In was für Zeiten leben wir, in denen urplötzlich Reiche arm und Arme reich werden können.« Hainchelin neigte den Kopf und schaute auf das Stück Holz im Kamin, das nun fast vollständig verglüht war.
Calzabigi fühlte sich bei diesen Worten an Gotzkowsky erinnert. Er fragte sich, ob Hainchelin von dessen bevorstehendem Bankrott bereits wusste.
»Es sind Zeiten voller Chancen«, entgegnete Calzabigi. »Sicher kann man darüber streiten, ob man der Fortuna erlauben sollte, scheinbar wahllos aus armen Teufeln reiche Bürger zu machen. Aber tröstet Euch: Auf jeden Fall werden in einer Lotterie stets mehr Teilnehmer verlieren als gewinnen. Die Lotterie hat tatsächlich zwei Enden, und Ihr schaut nur auf das eine. Viel wichtiger für uns – und vor allem für den König – ist aber das andere.« Er war überrascht, wie einfach er die richtigen Worte fand. »Während die Lotterie einigen wenigen Loskäufern vielleicht Wohlstand bringt, macht sie den König als Losverkäufer auf jeden Fall reich.« Calzabigi sagte dies voller Euphorie, doch als er die Wirkung seiner Worte bei seinem Gegenüber einzuschätzen versuchte, konnte er in Hainchelins Gesicht nicht den erhofften Zuspruch erkennen.
»Damit die Menschen Eure Lotterie lieben, werden sie ihr vertrauen müssen. Nur wenn sie sicher sind, dass die Gewinne auch ausgezahlt werden, kaufen sie Lose und überlassen der Lottokasse somit ihr Geld. Dies soll nach dem Wunsch des Königs das Thema unserer Unterredung sein. Euer Plan hat ihn überzeugt, aber ich will offen zu Euch sein …« Hainchelin zog die Augen zu zwei kleinen Schlitzen zusammen und fixierte Calzabigi. »Von Euch ist er noch nicht überzeugt. Der König hat Bedenken, was Eure Person angeht.«
Calzabigi spürte, wie bei
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