Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
Wohnung atmeten nicht, man transpirierte viel schneller, ich empfand es als ungesund. Ich weiß jetzt, dass ich solche Neubauten einfach nicht mag, hochgezogene Silos ohne viel Lebensqualität – eine Art menschengerechter Hühnerställe.
Wenn ich mein Baby hielt, sah ich die große Wiese vor mir, auf der meine Mutter mit mir im Arm saß, auf den Garten schaute, begrenzt von Nachbargärten, hinten ein kleiner Bach mit schmaler Brücke. Als wir größer wurden, spielten wir hinterm Garten mit Freunden, Tollen, Ringelreihen, Abschlagen, auf Bäume klettern, alles war möglich. Natürlich wurde auch gern genascht. Es gab Pflaumen, Äpfel, Birnen, Kirschen und Mirabellen, dazu verschiedene Beerensträucher, Erdbeeren sowieso. Das wurde von uns alles gepflückt, danach halfen wir beim Einkochen und Marmelademachen.
Wo würde Benjamin spielen? Würde er jemals durch einen Wald stromern können?
Ein eigenes Haus mit Garten konnten wir uns finanziell nicht leisten (der Anteil meiner Erfolgslizenzen wurde ja vom Staaat einbehalten) – so schön es gewesen wäre. Ich weiß von Kollegen, die politisch anpassungsfähiger und geschmeidiger waren als wir, dass sie halbe Häuser geschenkt bekamen. Das erledigten spezielle Bautrupps, angewiesen von höchster Stelle. Ich erfuhr das von meiner Schwester, die im wiedervereinten Deutschland den Chef eines solchen Bautrupps der Volksarmee kennenlernte. Er wusste nichts von mir und erzählte ihr freimütig, wer so alles von dieser »Zuwendung« profitierte. Ich war verblüfft, welche Namen er nannte … Wir fielen jedenfalls nicht in diese Kategorie.
Die neue Wohnung hatte noch kein Telefon. Das hatte die DDR einfach nicht im Griff. Dabei wäre es im eigenen Interesse der Stasi gewesen, weil sie es dann leichter gehabt hätten, mich zu observieren.
Meine Nachbarn fehlten mir, aber wenigstens war Kerstin inzwischen nach Berlin gezogen, nur ein paar Ecken von uns entfernt. Mit unseren Babys gingen wir im Tierpark spazieren, wir tauschten uns aus, und sie nahm mir Benjamin ab, da es ja schon wenige Monate nach der Geburt wieder losging mit Konzerten. Die Kollegen warteten ungeduldig.
Ich hatte ständig ein schlechtes Gewissen. Ich kam spätnachts heim, und kaum hatte ich etwas Schlaf gefunden, fing Benjamin an zu weinen. Er brauchte mich, und die Band brauchte mich, und László brauchte mich, ich fühlte mich völlig zerrissen und mühte mich, alles unter einen Hut zu kriegen. Kerstin war keine Dauerlösung, sie war mit zwei Babys auf einmal auch überfordert. Eine schwierige Zeit. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie packten wir es.
Vertrauensbruch und Zeitenwende
Und die dunkle Wolke blieb. Die ungute Luft des Verdachts. Egal, wohin man auch rannte. Im Frühjahr 1980 erreichte die Sammelwut unserer »Beobachter« einen neuen Höhepunkt. In meinen Stasiakten findet sich das Protokoll einer Begegnung, an die ich mich überhaupt nicht mehr erinnere. Es kann einem schwindlig werden angesichts dieser sinnlosen Kontrollwut:
»Delikt: Kontaktaufnahme von Personen Rtg. WB-BRD km 39,0, Tatort: Güst Marienborn-AB-Bln.Ring, Kreis Potsdam, Ziesar, Datum 12.04.80, Wochentag Sonnabend, Zeit 17.45-18.10 Uhr, West-Kfz.-Typ Krad, Farbe gelb, polizeil. Kennz. MS-DR 647 (Münster), ins.ges. 1 Mann, 1 Frau, 0 Kind, Personalien der Insassen ---, DDR-Kfz-Typ PKW Volvo, Farbe silbermetallic, polizeil. Kennz. IBM 0-15 (Berlin) ins.ges. 2 Mann, 1 Frau, 1 Kind, Personalien ---. Durch wen erfolgte die Feststellung: IME. Erläuterung des Sachverhalts: 17.45 wurden die Insassen genannter Fahrzeuge festgestellt, als diese sich angeregt unterhielten. 18.10 fand eine herzliche Verabschiedung statt. Die DDR Personen stiegen in ihren PKW und fuhren in Richtung BRD ab. Kurze Zeit später verließen die Kradfahrer den Parkplatz. Die weibl. DDR Person winkte bei der Abfahrt den BRD Personen zu.«
Eine »herzliche Verabschiedung« also auf einem Parkplatz am 12. April 1980. Das war zwei Monate vor einer anderen »herzlichen Verabschiedung«, die so ziemlich alles verändern sollte.
An einem warmen Sommerabend, am 16. Juni 1980, stand uns ein Auftritt im Jazzkeller am Breitenbachplatz in Westberlin bevor. Mittlerweile sah es so aus, als würden wir allmählich ganz normal im »Feindesland« konzertieren können.
Zudem war gerade ein Angebot vom Plattenlabel WEA aus der BRD eingetroffen, gemeinsam mit Amiga, der Schallplattenfirma der DDR, ein Veronika-Fischer-Album für den gesamtdeutschen Raum zu produzieren.
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