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Das Luxemburg-Komplott

Das Luxemburg-Komplott

Titel: Das Luxemburg-Komplott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Ditfurth
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nicht zum Klassenkampf, nicht zur Unterdrückung des Feindes, da schwiegen die Menschen. Irgendwo klatschte einer, aber er hörte gleich wieder auf, um still zu stehen. Es dauerte länger als eine Stunde, bis die Menschen auseinander gingen, immer noch schweigend, als kämen sie aus einem Gottesdienst.
    Rosa stand lange oben auf dem Podest hinter dem Rednerpult. Zacharias sah, wie müde sie war, aber sie blieb stehen und schaute auf den Platz. Vielleicht verstand sie erst jetzt, dass sie ihre Abschiedsrede gehalten hatte, obwohl noch Versammlungen in anderen Städten auf sie warteten. Sie hatte sich wohl nicht vorgenommen zu sagen, was sie gesagt hatte. Und jetzt begriff sie, was in ihr gewartet hatte. Jetzt erst hatte sie sich entschieden, Deutschland den Rücken zu kehren. Was sie sich erwünschte, konnte in Deutschland nicht entstehen. Zacharias begriff, dass sie ihre Hoffnung auf eine ferne Zukunft richtete, die sie nicht erleben würde und viele Generationen nach ihr noch nicht. Sie maß die Wirklichkeit an einer Utopie, die so wirklich war wie das Himmelreich.
    Dann stieg sie die Treppe des Podests hinunter. Unten musste Jogiches sie stützen. Das sah Zacharias von seiner Position am anderen Ende des Podests. Er eilte zu ihr, sie klammerte sich an Jogiches, dann sah Zacharias Tränen in ihren Augen. Arbeiter führten sie zu einer Gastwirtschaft, in der Einheimische und die Gäste sich an einen langen Tisch setzten. Kaum einer sagte etwas und dann nur im Flüsterton. Der Wirt nahm Bestellungen entgegen, Rosa bestellte einen Schnaps, was sie sonst nie tat. Als der Wirtund eine Kellnerin die Getränke gebracht hatten, stand Rosa auf. Zacharias sah ihre Hand zittern, als sie das Glas hob. »Auf die Freiheit!«
    »Auf die Freiheit!« antworteten die anderen.
    Dann tranken sie.
    Rosa schaute sich um, als suchte sie jemanden, dann setzte sie sich. Sie nahm Jogiches’ Hand und hielt sie lange. Dann ließ sie ihn los, lehnte sich zurück und hörte, was am Tisch geredet wurde, als wollte sie das letzte Mal hören, wie deutsche Arbeiter miteinander redeten. Die schimpften über die Regierung. Über den Hunger. Die Krankheiten. Über Banden, die die Gegend unsicher machten. Rosa sagte nichts, obwohl dieser oder jener sie manchmal durch Blicke aufforderte zu reden. Sie hatte mit alldem abgeschlossen.
    Dann sagte sie doch etwas: »Leo, wir müssen weiter. Kommen Sie, Sebastian.« Sie stand auf, nickte allen zu, vermied einen langen Abschied, draußen hastete sie zum Auto. Sie setzte sich auf ihren Platz, schaute zum Fenster hinaus und sagte: »Wir fahren weiter. Wir haben eine lange Reise vor uns.«

18
    S
    ie waren doch Genosse, sogar Tschekist. Warum helfen Sie uns nicht? Wollen Sie sich das wirklich weiter antun?« Der NKWD-Leutnant schaute auf die verbundenen Hände seines Gefangenen. Rote Flecken an den Stellen, wo das Blut durchgesickert war, nachdem sie ihm mit einer Zange die Fingernägel herausgerissen hatten.
    Inzwischen spürte Zacharias mehr Taubheit, aber das Entsetzen war noch nah, auch der Schmerz, der ihm das Bewusstsein rauben wollte. Er überlegte, wie lange er schon eingesperrt war im Keller der Lubjanka, dem Sitz des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes, Nachfolger der Tscheka, der er einst gedient hatte. Er wusste es nicht mehr. Am Anfang hatte er versucht die Tage zu zählen, aber dann hatte er die Zeit verloren in der fensterlosen Finsternis, die nur durch Glühbirnen aufgehellt wurde, Tag und Nacht.
    »Was für einen Tag haben wir heute?«
    Der Leutnant schaute ihn erstaunt an, dann sagte er: »Heute ist Freitag, der 18. August 1939.«
    Zacharias überlegte, wann er verhaftet worden war, aber er fand es nicht heraus. Ihm schien es unendlich lange her zu sein. Er wusste, wie es weiterging. Der Leutnant hatte recht, er konnte es sich leichter machen, wenn er alles erzählte, seine Version natürlich, so, wie er es verstanden hatte. Denn zwei Menschen erleben das gleiche ganz unterschiedlich. Das Gedächtnis spiegelt nicht die vergangene Wirklichkeit, es verarbeitet sie, es schafft sie erst. Es war alles so lange her, fast zwanzig Jahre. So lange war Rosa tot, Jogiches auch, und die deutsche Revolution war niedergeschlagen worden, nachdem sie sich selbst zerfleischt hatte.
    Liebknecht floh in die Sowjetunion, dann übernahm die Reichswehr das Kommando. Und sie setzte eine Diktatur der Fachleute ein, deren erstes Ziel der Kampf gegen den Bolschewismus war. Die Entente zeigte sich dankbar, und doch war

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