Das Luxemburg-Komplott
legte auf und hätte am liebsten darauf gedrängt, gleich weiterzufahren.
Aber Rosa war erschöpft, ihr Gesicht war weiß wie eine Wand. Das Küchenpersonal tischte Speisen auf für die Revolutionsführerin und ihre Begleiter, die es vermutlich gehortet hatte, um sich selbst zu versorgen. Die Kellner hatten Angst, etwas falsch zu machen. Zacharias stellte sich vor, wie die Revolutionstruppen hier gehaust haben mochten, nachdem sie Weimar erobert hatten. Aber er fragte nicht, eine innere Stimme befahl ihm, ruhig zu bleiben, nicht aufzufallen. Natürlich würde Däumig die Grenzposten anweisen, aufmerksam zu sein, damit er das Land nicht verlassen konnte. Und wenn die Tscheka erfuhr, was er getan hatte, würde sie ihn jagen überall auf der Welt. Aber noch hatte er eine Chance, aus Deutschland zu entkommen. Das Tor war offen für ein paar Tage, vielleicht auch nur für ein paar Stunden.
In der Nacht träumte er von seinem Doppelmord. Er wälzte sich hin und her, wachte auf und dachte immer wieder nach, ob es nötig gewesen sei. Sosehr er sich ü berzeugte, dass alle Umstände ihn gezwungen hatten, dieses letzte Verbrechen zu begehen, es war das gemeinste in all den Jahren. Er staunte, wie kalt er gewesen war, als er die Waffe auf Sonja richtete und abdrückte. Wir alle tun nur, was die Dinge von uns fordern. Freiheit? Die gab es noch nie, außer in den Illusionen der Menschen. Er mühte sich um Trost bei dem Gedanken, dass die Umstände ihn gezwungen hatten, seine Verbrechen zu begehen. Aber der Gedanke beruhigte ihn nicht. Es ist diese verdammte Ausweglosigkeit, die einen hilflos macht. Und zum Verbrecher.
*
Sie sprachen wenig am Morgen, als sie in den Wagen stiegen. Jogiches rauchte und starrte hinaus, die Luft im Auto brannte in den müden Augen. Aber Rosa fror, so dass die Fenster meist geschlossen blieben. Manchmal hielt die Kolonne an Straßensperren. Einmal hatte der Führungslastwagen einen Reifenschaden. Zacharias nutzte die Zeit des Wartens, um sich die Beine zu vertreten. Der Himmel war grau, es nieselte.
In Erfurt begrüßte sie eine Abordnung des Arbeiter-und-Soldaten-Rats. Die Männer trugen rote Armbinden und Gewehre. Als Rosa ausstieg, jubelten sie. Sie waren arglos in ihrer Freude, Zacharias sah Rosa an, wie sie sich grämte, weil sie diese Menschen täuschte. Auf dem Platz vor dem Rathaus strömten Tausende zusammen, als sie hörten, Rosa Luxemburg werde eine Rede halten. Das hatten die Arbeiterdelegierten ihr abgerungen. So verzögerte sich die Reise, die in Wahrheit eine Flucht war. Und es wuchs die Gefahr, dass sie Zacharias doch noch griffen.
Rosa war erschöpft, und doch erwachte in ihr die ungeheure Energie, die diese Frau berühmt gemacht hatte. Sie sprach nicht über die Gegenwart. Was hätte sie dazu sagen sollen, wo sie ihr doch entfloh? Sie sprach über die Zukunft des Sozialismus, und sie malte sie aus wie in einem großen Gemälde voller Schönheit und Harmonie. Über die Rettung des Menschengeschlechts aus der Knechtschaft, über die Menschwerdung der Unterdrückten und die historische Aufgabe des Proletariats, Ausbeutung und Despotie für alle Zeit zu überwinden.
Jetzt erst verstand Zacharias, was sie so bewegte, was ihr die Kraft gab, zu reden, wie sie nie zuvor geredet hatte. Es war wie eine Predigt der leisen Töne. Sie verzichtete auf Anspielungen, auf die Abrechnung mit dem Klassenfeind und den Gegnern in der eigenen Bewegung. Zacharias wartete auf ein Wort über Lenin, über den Terror, über Parteidiktatur. Es fiel keines. Aber wie sie die Aufgaben und die Zukunft des Proletariats schilderte, entwarf sie das Gegenbild zu Chaos und Bürgerkrieg, und sie tat es mit einer sanften Inbrunst, die die Menschen auf dem Platz verstummen ließ, ja, sie bewegungslos verharren ließ, um kein Wort zu überhören. Es war, als würden die Menschen auf diesem Platz in Erfurt die Offenbarung hören, die sich eine kleine untersetzte Frau als Verkünderin ausgesucht hatte.
Tatsächlich, Rosa gehörte nicht mehr sich selbst, sie war dem, was sie sagte, ausgeliefert, gab sich hin in schlichten Worten und einfachen Sätzen, die keinerlei rhetorische Kunstkniffe brauchten, um die Menschen ins Herz zu treffen. Jeder verstand, dass etwas Außergewöhnliches geschah, aber niemand verstand, was es war. Zuhörer würden noch Jahre später von dieser Rede berichten und von der Sprachlosigkeit, die sie bei ihnen erzeugte.
Als Rosa endete mit einem Aufruf zum Verständnis unter den Menschen,
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