Das Luzifer Evangelium
Monique.
»Im Lauf der Zeit, ja. Weder in der Bibel noch in der Religionsgeschichte wurde Satan je als endgültig definierte Figur dargestellt. Im Gegenteil. Als Herrscher der Hölle entwickelte sich Satan nur schrittweise.«
»Über viele Jahrhunderte«, merkte ich an.
»Man muss nur die Bibel lesen. In den Büchern Mose wird Satan gar nicht erwähnt. Das Konzept Satan existierte noch nicht.«
»Werden Schlange und Satan nicht gleichgesetzt?«
»Eine spätere Interpretation.«
»Woher stammt dann das Teufelskonzept?«
»Die einen sehen in Satan eine theologische Notwendigkeit als Gegengewicht zum barmherzigen Gott. Andere finden Satans Ursprung in allen möglichen Religionen und Mythen. Die Juden im Exil kamen mit der Lehre des iranischen Propheten Zarathustra in Berührung, dem Zoroastrismus, in der es auch einen Teufel gab – die Wurzel des Bösen –, Angra Mainyu genannt. Diese personifizierte Teufelsgestalt wurde mit babylonischen Königen und Abgöttern und alten Geistermythen vermischt und formte unsere Satansvorstellung. Im Ersten Buch der Chronik wird Satan erstmals als Repräsentant des Bösen genannt, als er David anstachelt, eine Volkszählung zu machen. Die berühmte Schriftstelle bei Jesaja über den babylonischen König wurde bereits in den ersten Jahrhunderten nach Christus so gedeutet, dass es darin um den Teufel ging.« Er reichte mir ein Blatt aus seiner Mappe.
Das Totenreich drunten erzittert vor dir, wenn du nun kommst. Es schreckt auf vor dir die Toten, alle Gewaltigen der Welt, und lässt alle Könige der Völker von ihren Thronen aufstehen, dass sie alle anheben und zu dir sagen: Auch du bist schwach geworden wie wir, und es geht dir wie uns. Deine Pracht ist herunter zu den Toten gefahren samt dem Klang deiner Harfen. Gewürm wird dein Bett sein und Würmer deine Decke. Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern! Wie wurdest du zu Boden geschlagen, der du alle Völker niederschlugst!*
* Jesaja 14, 9-12
»Das ist nur eines von vielen Beispielen, wie sich das Bild von Satan und der Hölle über unterschiedliche Bibelstellen und Deutungen entwickelt hat. Hier noch ein anderes Beispiel.«
Und es entbrannte ein Krieg im Himmel; Michael und seine Engel nahmen den Kampf gegen den Drachen auf. Auch der Drache und seine Engel kämpften, doch sie konnten nicht standhalten, und ihr Platz fand sich nicht mehr im Himmel. Und der große Drache, die alte Schlange, wurde hinuntergeworfen. Er heißt Teufel und Satan, der alle Welt verführt. Er wurde auf die Erde geworfen, und mit ihm wurden seine Engel dorthin geworfen.*
* Offenbarung des Johannes 12, 7-9
Monique hielt uns ihren Block hin. »Ist Satan vorrangig eine christliche Vorstellung?«
»Keineswegs. Dämonen und böse Geister beschäftigten jüdische Schriftgelehrte in den Jahrhunderten zwischen dem Alten und dem Neuen Testament und haben zweifellos die Satansdarstellungen in der christlichen Bibel geprägt. Alte Mythen und primitive Vorstellungen von bösen Geistern verschmolzen mit den weitaus komplexeren Bildern jener Zeit von einer konkreten Teufelsgestalt. Aber Sie haben natürlich recht, dass das Christentum Satan einen wichtigen Platz einräumt. Beachten Sie, wie diabolisch Satan im christlichen Neuen Testament dargestellt wird. In der Offenbarung des Johannes begegnen wir einem Satan von apokalyptischem Kaliber. Satan wurde mit der Zeit immer böser und hässlicher. Das Ganze kulminierte in den Jahrhunderten nach der Vollendung und Kanonisierung der Bibel. Im Mittelalter übernimmt Satan die Rolle der Schreckensversion vom Fürsten des Bösen, der auf der Erde und in der Hölle über eine Heerschar von Dämonen regiert.«
» Luzifers Evangelium ist aber älter als all diese Schriften«, gab ich zu bedenken.
»Und eben aus diesem Grund ist das Manuskript so wichtig für das Verständnis von Satan. Vermutlich hat es die frühesten Satan-Mythen mit geformt.«
»Gibt es wirklich Gläubige, die wegen so einer Seitenspur der Theologie einen Mord begehen? Es geht um eine Handschrift. Einen Text! Das sind nur Worte! Worte!«
»Worte sind mächtig.«
»So mächtig, dass Fundamentalisten dafür unschuldige Menschen umbringen? Das will nicht in meinen Kopf, wirklich nicht.«
»Ein bedauerlicher Zug vieler Religionen ist, dass sie manche Menschen zu dem Irrglauben verleiten, im Namen ihres Gottes zu handeln. Denken Sie an christliche Kreuzritter. Moslemische Dschihadisten. Jüdische Zionisten. Die Geschichte ist voller
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