Das Luzifer Evangelium
aber Sie müssen sie holen, Herr Nobile, Sie müssen Silvana holen! Der Dämon grinste. Wenn Sie sie finden . Giovanni sah Silvanas Gesicht in der Dunkelheit, schweißnass und bleich, mit geröteten Augen. »Wo ist sie?«, murmelte er. Die Elfe und der Dämon fingen an zu lachen. »Sagt mir, wo sie ist!« Sie liegt in einem Sarg! In einer Kirche! , riefen die Elfe und der Dämon gleichzeitig. Holen Sie sie! , flehte die Elfe. Bitte. Der Dämon lachte schallend. Für einen kurzen Augenblick änderte das Sirren die Frequenz. Die Elfe und der Dämon wimmerten und verstummten. Giovanni sah das Krankenzimmer vor seinem inneren Auge und die Eltern, die an seinem Bett saßen und über ihn wachten. Um sie herum, nicht sichtbar für das menschliche Auge, wimmelte es von Dämonen, die über den Boden krochen, sich über das Bett hangelten und von der Decke hingen. Giovanni blickte auf und ahnte zwei funkelnde Augen. Er schlug den Blick nieder. Beelzebub? Bist du das? Bist du das, Beelzebub? Der Schatten des Wesens verschmolz mit der Dunkelheit, und das dumpfe Sirren verstummte. Er schaute nach der Elfe und dem Dämon. Sie waren fort, und auch der Gestank des faulen Fleisches löste sich auf. Dann war es nur ein Traum. Eine Fantasie . Er versuchte, wach zu werden. Das ist nicht real, Giovanni, das alles spielt sich nur in deinem Kopf ab, das ist nicht real. Die alte Standuhr tickte gleichmäßig, ein helles Tick, gefolgt von einem etwas dunkleren Tack.
*
Um fünf Uhr wachte Giovanni auf. Er duschte, trank eine Tasse Tee und radelte zur gewohnten Zeit los, fest davon überzeugt, dass er beschattet wurde. Er schloss das Rad an der Heizölleitung vor der Universität an und ging kurz in seinem Büro vorbei, ehe er die Sicherheitskontrolle passierte und bei Umberto Gialli klopfte.
»Giovanni? Ich dachte, du wolltest verreisen?«
»Später. Vielleicht. Es ist etwas dazwischengekommen …«
»So kann es gehen. Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Ich müsste mir die Handschrift mal ausleihen, Umberto.«
»Die Handschrift ausleihen?«
»Nur für ein paar Stunden.«
Umbertos Augenbrauen formten ein Dach.
»Ich bin im Codex Sinaiticus auf eine Stelle gestoßen, bei der es sich um einen Hinweis oder eine Abschrift eines Abschnittes aus Luzifers Evangelium handeln könnte.«
Die Lüge entbehrte jeder Grundlage, aber Umberto war kein Theologe.
»Das klingt spannend, Giovanni, aber ich fürchte, ich muss dich enttäuschen.«
»Wieso?«
»Also, wenn ich sie hätte, würde ich dir die Handschrift selbstverständlich geben.«
»Wo ist sie?«
»Nicht mehr hier.«
»Was sagst du da?«
»Genau das wollte ich dir gestern Abend erklären. Aber du warst völlig neben der Spur, wenn ich ehrlich sein darf.«
»Was wolltest du mir erklären?«
»Dekan Rossi hat die Handschrift beschlagnahmt.«
»Er hat Luzifers Evangelium beschlagnahmt? Warum?«
»Darüber redest du am besten mit ihm selbst.«
»Hat er dir denn keinen Grund genannt?«
»Es ging um irgendwelche Formalitäten.«
Formalitäten … Das klang ganz nach Rossi, in der Tat. Giovanni bedankte sich bei Umberto und eilte zurück zur Sicherheitskontrolle. Ungeduldig ließ er die Leibesvisitation über sich ergehen, ehe er im Stechschritt die Treppe hinauf bis ans Ende des Korridors zum Büro des Dekans der Fakultät lief.
Dekan Salvator Rossi hängte gerade Mantel und Hut im Vorzimmer auf, als Giovanni hereingestürmt kam.
»Ah, Nobile, gut! Ich wollte Sie gerade anrufen. Wir haben ein Problem.«
Sie gingen in sein Büro. Sowohl die Ausmaße des Raumes als auch dessen Möblierung ließen keinen Zweifel daran, dass Rossi der Chef war und damit auch nicht hinterm Berg hielt.
»Ein Problem, dottore ?«
»Nobile, ich weiß um Ihr gutes Verhältnis zu diesem Antiquar, Luigi Fiacchini.«
»Was heißt gut … «
»Als Sie Ihre Reise unternommen haben, um die Handschrift zu holen, habe ich mir erlaubt, das ägyptische Amt für Kultur-und Denkmalpflege anzurufen.«
Ein eisiger Schauer rieselte Giovannis Rückgrat herunter.
»Es ist alles in Ordnung, Dekan.« Die Stimme klang fremd und quäkend. »Die Lizenzen, Ausfuhrpapiere. Alles vorhanden, unterschrieben und abgestempelt.«
» Professore …«
»Ich habe extra Kopien von den Urkunden gemacht, für den Fall formeller Komplikationen.«
»Ich zweifele nicht daran, dass Sie in gutem Glauben gehandelt haben, Professor. Leider ist Luigi Fiacchini nicht die zuverlässigste Person.«
»Er ist ein Krämer, das schon, aber er
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