Das mach' ich doch mit links: Roman (German Edition)
Behauptungen aufzustellen. Hin und wieder erwähnte sie nur so ganz beiläufig die hohen Lebenshaltungskosten in den Staaten, die sie zwangen, wenigstens gelegentlich ein paar Monate in einem Land zu leben, das billiger sei. So galt sie im Familienkreis als eine Art Epidemie, die sporadisch kam, zum Glück aber auch irgendwann wieder verschwand.
Kein Wunder also, dass Klärchens immer noch verschlossener Brief Misstrauen auslöste. Florian hatte nicht den Mut gehabt, ihn zu öffnen, obwohl Clemens ihm gesagt hatte, dieses Schreiben gehöre bestimmt nicht zu der Art Post, die man seinem Vater nachsenden müsse; außerdem sei es besser, auf eine Gefahr vorbereitet zu sein, als ihr unverhofft gegenüberstehen zu müssen. Er würde die volle Verantwortung für die Verletzung des Briefgeheimnisses übernehmen.
»Dann kannste ihn ja auch selber aufmachen!«
»Nun gib ihn schon her, sonst macht ihr noch die Marken kaputt!« Mit einem Küchenmesser schlitzte Rüdiger vorsichtig den Umschlag auf, entnahm ihm einen Bogen Luftpostpapier und reichte ihn weiter an Florian. »Lies lieber gleich laut!«
Florian las:
Mein lieber Fabian,
nun sind schon bald anderthalb Jahre vergangen, seit ich Dich und Deine Familie gesehen habe. Deshalb erscheint es mir an der Zeit, good old Europe wieder einen Besuch abzustatten. Wir werden alle nicht jünger, wer weiß, wie lange ich noch in der Lage sein werde, eine so große und beschwerliche Reise zu unternehmen.
»Beschwerliche Reise!«, unterbrach Melanie, »dass ich nicht lache! Die fliegt doch immer erster Klasse.«
Florian warf seiner Nichte einen strafenden Blick zu und las weiter:
Darum habe ich auch beschlossen, nicht mehr länger zu warten. Das Osterfest steht vor der Tür, das Leben in der Natur erwacht, und diese schöne Zeit würde ich gern im Kreis Deiner Lieben verbringen.
Mitte Mai, wenn Deine Eltern aus Österreich zurück sind, werde ich nach Tübingen weiterreisen, im Juli dann meine Schwester Gertrud besuchen und danach zu Florian nach Düsseldorf fahren. Bevor ich sterbe, möchte ich wenigstens noch seine Frau kennenlernen und die kleine Julia. Von dort fliege ich wieder nach Hause, denn der September ist in Deutschland leider schon recht kühl, und das raue Klima bin ich nicht mehr gewöhnt.
Meine Maschine wird am Samstag, dem 21. April, um 17.40 Uhr in Frankfurt landen. Ich habe absichtlich den späteren Flug gebucht, denn vormittags wird Deine liebe Frau sicher noch mit den Festtagsvorbereitungen beschäftigt sein. Macht Euch meinetwegen aber bitte keine Umstände, ich brauche wenig zum Leben, daran bin ich gewöhnt.
Ich freue mich auf ein baldiges Wiedersehen und verbleibe bis dahin mit herzlichen Grüßen an Dich und die Familie
Deine Tante Claire
»Ich hab’s ja geahnt!«, stöhnte Melanie. »Uns bleibt aber auch nichts erspart.«
»Und ich hatte mich so auf ein paar ruhige Feiertage gefreut«, maulte Rüdiger, »stattdessen hängt diese alte Eule hier rum und nervt.«
Florian stand schon vor dem Küchenkalender und rechnete. »Wenn ich mich nicht irre, will sie mindestens drei Wochen hierbleiben, bevor sie weiterfährt nach Tübingen. Ich kann nur hoffen, eure Großeltern wissen noch nicht, was ihnen bevorsteht, sonst verlängern sie ihren Urlaub oder springen gleich in den Wörthersee.«
»Können wir nicht ein Telegramm schicken, hier ist Scharlach ausgebrochen oder so was Ähnliches?«, schlug Tobias vor, der sich an diese offenbar schreckliche Tante zwar nicht mehr erinnern konnte, aber auch keinen Wert darauf legte, sie erneut kennen zu lernen. Bestimmt wollte sie ihn küssen. »Wie der Jochen in meiner Klasse vorige Woche Scharlach kriegte, hat seine Schwester auch nicht mehr in die Schule gemusst wegen der Ansteckung.«
»Tobias hat Recht«, überlegte Florian. »Wir sollten sie wirklich benachrichtigen. Das mit dem Scharlach geht natürlich nicht, aber wir könnten telegrafieren, dass eure Eltern gar nicht hier sind.«
»Wozu soll das gut sein! Dann haben wir vielleicht eine Galgenfrist, aber spätestens in vierzehn Tagen rückt sie uns doch auf die Bude. Und wenn wir ihr die Wahrheit sagen, verzeiht uns Vater das nie, weil er sie dann auf dem Hals hat.« Urban schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Wir werden uns wohl in das Unvermeidliche fügen und das verarmte Tantchen bei uns aufnehmen müssen.«
Melanie blickte ihren Bruder giftig an. »Du hast gut reden! Schütze Urban verzieht sich am Sonntag in seine Kaserne, und ich gehe jede
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