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Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)

Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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und gab frei, was darunterlag. Tote Augen stierten Michel entgegen. Von dem Gesicht war nicht mehr viel übrig, doch an dem Grübchen im Kinn erkannte er die Frau. Sie war schon lange nicht mehr gekommen, doch an jenem Abend war sie hier gewesen. Hatte nicht nach Liebe ausgesehen, und wie es schien, hatte sie auch keine gefunden. Dort, wo die weiße Gurgel, die Männer so gerne küssten, gezuckt hatte, klaffte ein Spalt, den niemand mehr küssen würde.
    Jetzt nur die Ruhe, gebot sich Michel. Ob du brüllst, ob du spuckst oder wie ein Mädchen in Ohnmacht fällst, das macht keinen Toten lebendig. Vorsichtig, um nicht auszurutschen, ließ er sich den Hang hinuntergleiten. Dann ging er eilig ums Haus, um den kleinen Jobst abzufangen, der ihm bereits entgegenkam. »Morgen, Junge«, brummte er wie immer, und nur ein überfeines Ohr hätte das Beben in seiner Stimme bemerkt. »Pass auf, heute hab ich mal einen Auftrag für dich, der ist wichtiger als das, was ich dir sonst so geb. Und der muss schnell erledigt sein, hörst du? Meinst du, du kannst das für mich schaffen?«
    »Klar doch«, sagte Jobst. Viel mehr sagte er nie.
    »Du läufst bis zur Langen Brücke, weißt du, wo das ist?«
    »Klar doch.«
    »Das Rathaus kennst du auch? Wunderbar, da gehst du hinein und sprichst unten, wo die Kaufleute ihre Waren stapeln, mit den Aufsehern. Sag ihnen: Zu Michel Birnenwirt soll die Stadtwache kommen, mindestens drei Mann hoch und auf dem allerschnellsten Weg.«

35
    Sie saßen beisammen wie die glückliche Familie, die sie nie gewesen waren. Der Badersknecht und der vulgäre Bäcker thronten dabei, als gehörten sie dazu, und das Mädchen, das Diether wohl geschwängert hatte, watschelte wie die Herrin des Hauses vom Feuer zum Tisch und zurück. Der vornehm gekleidete Herr, dem ein Todesschrecken das Stirnhaar gebleicht hatte, war Clewin Alvensleben. Der Spandauer Gewandschneider, der die großen Kontore vor dem Mühlendamm aufgekauft und Bechtolt in der Gilde ausgestochen hatte. Wie kam der in diesen traurigen Witz von einem Haus? Warum hatte niemand erwähnt, dass er mit ihm bekannt war? Hatte keiner von ihnen begriffen, dass das die Rettung gewesen wäre, das bisschen Hilfe, das er gebraucht hätte, um sie alle ins Glück zu führen?
    Nein, natürlich hatten sie es nicht begriffen, sie hatten ja nie darüber nachgedacht. Über ihn hatten sie nie nachgedacht, und dass sie ihn in seinem Versteck entdeckten, brauchte er nicht zu fürchten, denn sie bemerkten ja nicht einmal, dass er seit Tagen an ihrem Tisch fehlte. Stattdessen sprachen sie von Diether, wie er es sein Leben lang von ihnen kannte: Diether benahm sich daneben und bekam alle Aufmerksamkeit, die ein Mensch sich nur wünschen konnte.
    Bis heute bejammerten sie ihn, nur weil er vom Vater ab und an verprügelt worden war. »Aus dir werde ich verdammt noch mal etwas Besonderes machen!«, hatte der Vater gebrüllt und seinen Stock auf Diethers Hintern sausen lassen. »Einen Mann, der in der Welt etwas erreicht!« Und für die paar lachhaften Blessuren war ihm bis heute das Mitleid der Geschwister sicher! Hatte wahrhaftig keiner von ihnen mitbekommen, dass er verborgen hinter der Truhe gestanden und sich innig gewünscht hatte, er wäre es, der dem Vater die Prügel wert war, er wäre es, aus dem der Vater etwas Besonderes machen wollte, einen Mann, der in der Welt etwas erreichte?
    Aber er war es nie gewesen. Weder der, den der Vater schlug, noch der, dem der Großvater Nüsse zusteckte, und schon gar nicht der, den Magda in die Arme schloss, um ihn zu trösten. Es war immer Diether. Auch jetzt. Ein wahres Aufgebot war um Diethers willen unter dem windschiefen Hausdach zusammengelaufen. Hätten sich alle derart ein Bein ausgerissen, um statt Diether ihm behilflich zu sein, so hätte er es ihnen tausendfach gedankt. Diether würde es ihnen nicht danken. Dennoch liebte er Diether und hatte ihn immer geliebt. Der kleine Bruder war einer von ihnen, und niemals hätte er Diether ein Leid getan.
    Dafür, dass ihm auch jetzt kein Leid geschah, würde die Familie schon sorgen. Wenn es nottat, würden sie sich nicht scheuen, um Diethers willen wiederum ihn über die Klinge springen zu lassen, wie sie es auch zuvor getan hatten. Für Diethers Diebstahl hatte er bezahlen müssen, und Diethers Bluttat würden sie ebenso ohne Skrupel ihm anhängen. Bis zu Diethers Verhandlung wäre er jedoch längst außer ihrer Reichweite. Es tat ihm weh, sich von ihnen zu trennen, es würde ihm

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