Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
von Aquitanien, nicht in Brandenburg.
Die beiden, die am vergangenen Abend gekommen waren, waren ihm die liebsten von allen. Er, Michel Birnenwirt, hatte Jahre damit verbracht, in den Gesichtern von Paaren zu lesen, und zuweilen machte es ihn traurig, wie wenig von der Liebe darin zu entziffern war. Die beiden, die gestern zur Kammer hinaufgestiegen waren, brannten vor Hunger, obwohl sie Käse hätten essen können, waren betrunken, obwohl sie seinen Wein nicht angerührt hatten, und verbargen nicht, dass sie sich fürchteten, obwohl sie beide beherzt und tapfer waren. An die verknöcherte Liebe, die manche seiner Gäste machten, mochte Michel nicht einmal denken, doch der Liebe dieser beiden hätte er gerne zugeschaut und hätte sich nicht dafür geschämt.
Stattdessen kletterte er im ersten Morgengrau, nachdem die zwei sich mit seliger Röte auf den Wangen aus dem Haus geschlichen hatten, die Stiege hinauf, um das Nachtgeschirr zu leeren und den Unrat aufzulesen. Michel hatte sich einst vorgestellt, dass seine Gaststätte unter dem Birnbaum eine Zuflucht sein sollte für Menschen, deren Liebe kein Haus hatte. Mithin sorgte er noch heute dafür, dass unter seinem Dach Ruhe, Sauberkeit und erfreuliche Gerüche herrschten. Den schweren Kübel, in den er die Abfälle gesammelt hatte, schleppte er wieder hinunter und trug ihn hinter das Haus, um ihn auf seinen Misthaufen zu leeren.
Sooft es seine Zeit erlaubte, schüttete er frische Erde über den Berg aus Abfall und ließ seine Ziegen ihn niedertrampeln, damit der Dreck nicht allzu viel Ungeziefer anzog und nicht zum Himmel stank. An diesem Morgen, gerade als er an alles andere als Verfall und Verwesung denken wollte, war der Haufen von fetten Fliegen umschwirrt. Solche Schwärme hatte er zuletzt in den glutheißen Sommern gesehen, die Jahrzehnte zurücklagen. Raben, die für gewöhnlich entflohen, sobald sie seine Schritte hörten, flatterten nur bis zum Zaun und blieben lauernd darauf hocken. »Und was gibt es hier, das euch die Schnäbel wässrig macht?«, bellte er sie an. »Ein bisschen Piss und ein bisschen Scheiß, das fällt selbst bei den schönsten Menschen an, selbst bei denen, die die Liebe erfunden haben, und am Ende ist auch von denen nichts übrig als ein Batzen Fleisch, der stinkt.«
Bei dem Wort zog er die Nase kraus. Dass Abfall stank, war kaum eine Erkenntnis, die die Welt bewegte. Der hier aber stank anders als gestern, und das nicht, weil Michel einen ganzen Laib unberührten Käse obenauf geworfen hatte.
Wenn er es recht überlegte, war das eine Verschwendung, die der Allmächtige übelnehmen mochte. Es gehörte zu Michels Regeln, keinem Gast vorzusetzen, was ein Vorgänger verschmäht hatte, doch im Fall des Käselaibes konnte das kaum gelten. An dem war nichts auszusetzen, er war lediglich übrig geblieben, weil sein taubenäugiges Liebespaar nur Augen, Hände, Münder und Mägen füreinander gehabt hatte. Mit einem Seufzen langte Michel nach seiner Mistgabel, um den Käse von der Kuppe des Hügels, auf den er alles geschüttet hatte, wieder herunterzufischen.
Natürlich erwischte er mit den Zinken nicht einfach den Käse, sondern eine ganze Masse von Dingen, die einmal genießbar gewesen, jetzt aber nur noch widerlich waren. Die Bewegung löste eine Lawine aus. Faulige Gemüsereste, Brocken vom Erdreich und der an allem schuldige Käselaib rollten Michel entgegen. Er wollte ihn aufheben, um ihn drinnen am Zuber zu säubern, da blieb sein Blick an dem hängen, was aus der abgeflachten Kuppe seines Abfallbergs ragte. Im selben Atemzug fragte er sich, ob der Hügel nicht ungewöhnlich hoch war. Hatten die Ziegen nicht erst letzte Woche einen ganzen Tag damit verbracht, ihn einzuebnen?
Der Gegenstand, der ihn beunruhigte, reckte sich aufrecht gen Himmel. Abfall blieb liegen, der reckte sich nicht. Michel hörte von der Vordertür her Schritte, die dem kleinen Jobst gehörten, einem leicht zurückgebliebenen Burschen, der ihm morgens in Stube und Küche aushalf. Wenn der merkte, dass sein Herr nicht im Haus war, würde er nach hinten kommen, und ehe das geschah, wollte Michel wissen, was es mit dem seltsamen Ding auf seinem Unrat auf sich hatte. Es war dieses Ding, das die grünlichen Fliegen umkreisten, und auf beklemmende Weise war Michel sicher, dass er es nicht dort hinaufgeworfen hatte.
Entschlossen setzte er einen Schritt auf den Berg und war mit dem zweiten auch schon oben. Unter seinen Sohlen geriet die dünne Erdschicht ins Rutschen
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