Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
Diether entlastet war.
»Aber ja«, sagte er und küsste ihre Schläfe. »Nur bin ich überzeugt, es wird nicht nötig sein.«
Dabei beließ sie es. Sie hatte sein Wort, und das genügte ihr. Unendlich froh blieb sie in seinen Armen liegen, erlaubte sich noch einen Augenblick lang, den Duft und die Wärme seiner Haut zu genießen. Dann fiel ihr etwas ein. Ihr war vergeben worden, sie wollte, dass anderen genauso vergeben wurde. »Thomas, heute Abend kommt dein Vater zu uns. Komm du auch. Er tut so viel für uns, da ist es nur gerecht, wenn ich ihm seinen Sohn wiederbringe.«
»Das kann ich nicht.« Er ließ sie los und setzte sich auf.
»Du kannst nicht? Und das ist dein Ernst? Hast denn nicht du mir gerade erklärt, dass solches Fehlurteil nur menschlich ist? Und dennoch willst du deinem Vater nicht verzeihen, den du ohnehin schon viel zu lange bestraft hast?«
»Ich habe ihn doch nicht bestraft!«
»Ach nein? Und warum darf er dich dann nicht sehen, warum beantwortest du seine Briefe nicht und schickst mich, statt selbst zu ihm zu gehen?«
»Weil ich mich schäme.«
»Weil du dich schämst?« Einen Herzschlag lang blieb ihr der Mund offen stehen, und sie musste die Hände zu Fäusten ballen, um sie still zu halten. »Beim Herrgott, und weil du dich schämst, verbannst du den alten Mann aus deinem Leben? Weißt du, wie satt ich das habe, dieses lächerliche Schämen und Zieren von euch Männern, das im Grunde nichts ist als ein Gesuhle in Selbstmitleid? Wahrhaftig, früher oder später kribbelt es mir so sehr in den Fingern, dass einer von euch dafür eine Maulschelle sitzen hat.«
Mit gespieltem Kleinmut duckte er sein Gesicht in den Schutz seiner Arme. »Muss der, an dem du das mit der Maulschelle ausprobierst, ausgerechnet ich sein, Magda?«
»Ja, musst du.« Sie bog ihm einen der bemerkenswerten Arme beiseite und biss ihn ins Ohr. »Du hast sie am meisten verdient, und weißt du auch, warum? Weil du von euch allen der Klügste bist und diesen bildschönen Kopf, der auf deinem Hals steckt, gefälligst zum Denken benutzen kannst.«
»Zwei Komplimente in einem Atemzug? Falls dir häufiger danach ist, mir die Leviten zu lesen – sei mein Gast.«
»Ach, mein Liebster.« Aufseufzend lehnte sie den Kopf an seine Schulter und küsste seinen Hals. »Mir ist danach, dir jeden Tag die Leviten zu lesen, dir die Ohren lang zu ziehen und dir Komplimente zu machen, bis du vor Hochmut nicht mehr zu ertragen bist. Aber ich habe doch versprochen, dich gehen zu lassen. Ist das ein Notfall, Liebling, darf ich mein Versprechen brechen wie du deinen Schwur?«
»Lass es mich wissen, falls es einer wird«, sagte er und zog sie wieder an sich. »Bevor die Fastenzeit beginnt, zu Allerheiligen. Jetzt verpass mir in Gottes Namen diese Maulschelle, sei aber nicht gar so streng, und dann müssen wir gehen, meine Liebste.«
»Die ist dir erlassen, wenn du ein vernünftiger Junge bist und heute Abend deinem Vater die Hand gibst.« Sie versuchte vergeblich, ihre Tränen zu unterdrücken, und küsste ihn so forsch, wie sie konnte, auf die Wange.
»Sehe ich aus wie ein vernünftiger Junge, schönes Mädchen aus Berlin?« Er rieb ihre Tränen mit den Fingern weg und ließ die seinen laufen. »Heute Abend in eurem Haus am Krögel, ja?« Und dann liebte er sie noch einmal, als hätten sie auf der Welt nichts anderes zu tun.
34
Michel Birnenwirt hatte die Gaststätte, die damals noch nicht unter den hohlen Birnbaum passte, von seinem Vater geerbt. Dessen Vater, Michel Birnenwirts Großvater, hatte den Birnbaum gepflanzt, obgleich sein Vater, Michels Urgroßvater, ihm geraten hatte: »Pflanz ein Apfelbäumchen, das tust du für deine Kinder. Von einem Birnbaum dagegen haben erst deine Enkel was.«
So war es gekommen, und der Enkel, der von der hohlen Birne etwas hatte, war Michel. Die Leute, die zu ihm kamen, weil sich das Leben unter der Birne so verborgen, lauschig und beschützt anfühlte, waren immer dieselben, und in der Regel mochte er sie. Er beobachtete sie gern von seinem Platz hinter dem Schanktisch und malte sich aus, wie ihre Geschichte begonnen hatte und wie sie sich weiter entspinnen mochte. Manchen traute er eine Tragödie zu und anderen nicht einmal ein missglücktes Mirakelspiel. Manche störten ihn, weil ihm zu ihren öden Mienen nichts einfiel, und manche mochte er lieber als die Übrigen, weil er ihnen ein Lied hätte dichten wollen, wäre er als Troubadour, nicht als Birnenwirt zur Welt gekommen, in der Schwüle
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