Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
auf die Ohren. Sie wollte nicht miterleben, wie Diether durch den Raum preschte und mit den Fäusten auf Linhart eindrosch, wie Endres versuchte, ihn zurückzureißen, wie Utz sich vergeblich dazwischenwarf und wie der Großvater schließlich ein Ende machte und Linhart des Hauses verwies.
Und bei diesem ganzen scheußlichen Tumult geht es um mich, rumorte es ihr im Kopf. Aber um sie ging es ja in Wahrheit gar nicht – höchstens um Geld in einer Truhe, um den Besitz der Brauerei und des Großvaters Stellung in der Stadt. Zum ersten Mal hatte Magda ihre Familie satt. Sie lief hinauf in ihre Kammer und wollte an diesem Tag keinen von ihnen mehr sehen.
In der Nacht, die diesem Tag voll Unfrieden folgte, hatte sie wieder einen Traum. Es war jener Traum, der ihr Leben für immer verändern würde, jene Nacht, in der Magda begann, sich vor sich selbst zu fürchten.
Vor dem Morgengrauen schreckte sie aus einem qualvollen Schlaf, in eisigen Schweiß gebadet. Die Decke wärmte sie nicht, so fest sie sie auch um sich schlang. Ihr Herz raste vor Entsetzen. Endlich zwang sie sich, die Reste ihrer Vernunft zusammenzuklauben und sich aufzusetzen. Statt weiter unter der durchnässten Decke zu zittern, stieß sie sie von sich und legte sich ihr Schultertuch um.
Erinnere dich , befahl sie sich. Es war nur ein dummer Traum, wie es die vielen Male zuvor nur ein Traum war. Es ist unmöglich, in die Zukunft zu schauen, allein Gott kann das, kein törichtes Mädchen aus Bernau . Alheyts Kind fiel ihr ein. Von ihm hatte sie nicht geträumt, und dennoch war es gestorben. Aber das Kind hatte noch nicht sprechen und von ihr nicht Abschied nehmen können. Nein, sie betrog sich nur selbst: Natürlich starben Menschen, ohne ihr im Traum zu erscheinen. Das war nicht, was sie so sehr besorgte. Was sie quälte, war vielmehr, dass ausnahmslos jeder, der ihr im Traum erschien, vom Tod geholt wurde. Der Mann aus ihrem Traum hatte ihr klar und deutlich seinen Gruß entboten: »Ich muss jetzt gehen. Ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu wünschen.«
Der Mann aus ihrem Traum würde sterben.
9
Seit Wochen hatte Endres Diether in den Ohren gelegen, er solle mit ihm zum Torfstechen gehen. Zusammen mit anderen Burschen aus der Stadt hatte er vor dem Waldrand ein Stück Moor durch Gräben notdürftig entwässert, und mit dem Schwarztorf, der dort in der Tiefe wartete, wollte er versuchen, ein Rauchbier zu brauen, wie es im Bayrischen bekannt war. Die Idee stammte von Diether selbst, doch wie so oft war er nur einmal kurz darüber in Begeisterung geraten, um sie wenig später zu vergessen.
Endres hingegen war Feuer und Flamme: »Wenn wir jetzt ein paar Fuhren Torf holen, bekommen wir ihn bis zum Winter noch trocken«, hatte er gesagt. »Du hast selbst gesagt, mit dem Rauchbier hätten wir etwas, das die Klöster nicht zu bieten haben, und ich bin überzeugt, die Händler würden uns reichlich davon abnehmen.«
Diether hatte keine Lust, Torf zu stechen. Es war eine viehische Plackerei, Drecksarbeit, für die betuchte Herren Tagelöhner aus den Katen bezahlten. Gut gestellte Handwerker wie die Harzers hatten derlei kaum je nötig gehabt.
»Die Zeiten werden schlechter.«
»Bleib mir vom Hals mit deinen schlechten Zeiten. Wenn ich die Zeit wäre, ich würde auch schlecht werden, wenn Unken wie du es beständig herbeischwatzen.«
Es war nicht nur die Arbeit des Stechens, die Diether hasste, sondern das Moor an sich. Nicht, weil sich allerlei Legenden von Geistergestalten und friedlos wandelnden Moorleichen darum rankten. Er war ja kein Mädchen, und als Knabe hatten ihm derlei Geschichten eher ein finsteres Vergnügen bereitet. Auch nicht, weil das Moor das reinste Brutnest für Räuber war, die sich auf den tückisch verborgenen Wegen auskannten und ein argloses Opfer in die tödlichen Fangarme der Nässe treiben konnten. Tollkühnheit, die seine Schwester Leichtsinn nannte, war Diether in die Wiege gelegt, und vor einer ordentlichen Prügelei hätte er nie und nimmer den Schwanz eingekniffen. Nein, es waren weder Räuber noch Geister, die ihm das Moor verleideten. Es war die Erinnerung an den Vater, die weit aufgetriebene Wunde am Hals und das vom Blut schier unkenntliche Gesicht, die ihn noch immer verfolgte.
An diesem Morgen, der grau wie unter Schleiern begann und selbst nach Stunden kaum heller wurde, sagte er dennoch zu Endres: »Na komm, gehen wir Torf stechen, wie du’s dir so sehnlichst wünschst.«
»Jetzt ist es zu spät«, erwiderte
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