Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
zurückkehren, und er würde tagelang für sie nicht erreichbar sein. Er sammelte bereits ihre Habe zusammen, die Wolltücher, auf denen sie gelegen, die Becher, aus denen sie getrunken hatten, und traurig half sie ihm.
Im Mai hatte sie all diesen Rätseln noch etwas abgewinnen können, hatte sich darauf gefreut, wie bei einer Zwiebel Haut um Haut von seinem Geheimnis zu schälen, bis sie es schließlich voll Staunen in den Händen hielt. Jetzt aber begann der August, und sie war keinen Schritt weiter. Er ging in sein Graues Kloster, sie ging heim in die Brauerei. Sie hatte ihm ihr Leben anvertraut, wie man ein Buch aufblättert: eine Seite für den Großvater, eine Seite für Barbara, eine für jeden ihrer Brüder, und mehr als eine für den armen Endres, an den sie nicht ohne Schuldgefühle denken konnte.
»Er war so still und scheu, hielt sich immer zurück, und zum Schluss hat er mich damit zur Weißglut getrieben. Dabei hat er zusehen müssen, wie seine ganze Familie im Feuer zu Tode kam. Liegt es da nicht nahe, dass ein Mensch ganz still wird und sich vor dem Leben fürchtet?«
»In der Tat«, hatte Thomas erwidert. »Er muss ein unglaublich starker Mensch gewesen sein, um das zu überleben.«
Magda nickte. Sie hatte es nie so betrachtet, sondern sich oft geärgert, weil er ständig den Mund nicht aufbekam und sie für ihn hatte sprechen müssen.
»War er denn immer still?«, fragte Thomas. »Auch wenn er mit dir allein war?«
»Nein!«, rief sie erregt. »Wenn wir allein waren, hat er mir manchmal etwas erklärt – über den König, über den Papst, über die Verhältnisse im Land. Nur wenn ein anderer dabei war, war kein Wort mehr aus ihm herauszuholen.«
»Dir hat er vertraut, Magda. Sei nicht so hart zu dir. Nach allem, was ihm widerfahren ist, hast du ihm einen Ort geschenkt, an dem er sich sicher fühlte.«
Seine Worte waren Balsam. Dennoch fuhr Magda noch einmal auf: »Aber ich habe ihn doch gar nicht verstanden. Nach seinen Eltern, seinem früheren Leben habe ich ihn nie gefragt.«
»Meinst du nicht, dass es ihm recht so war? Er hat dich geliebt, er wollte, dass du das Schönste, nicht das Schlimmste von ihm weißt.«
Was er sagte, klang, als hätte er Endres gekannt. Er war ein Meister des Trostes, schien in sie hineinzuschauen und mit seiner Stimme ihr aufgewühltes Innerstes zu streicheln. Was aber sein eigenes Innerstes betraf, so schwieg er sich aus. »Und was ist mit dir?«, herrschte sie ihn an. »Willst du auch, dass ich nur das Schöne, nicht das Schlimme von dir weiß?«
»Natürlich.« Er lachte. »Will das nicht jeder Mann?«
Nicht meine Brüder, dachte Magda und packte ihn bei den Ohren. »Bei Endres habe ich mich damit zufriedengegeben, aber von dir will ich alles wissen. Alles Schlimme, alles Schöne, jede Einzelheit!«
»Du weißt doch schon alles! Ich bin ein Kerl in einer grauen Kutte, ich sollte in der Stadt um Almosen betteln und liebe stattdessen ein Mädchen aus Bernau, das mir beide Ohren zugleich ausreißt.«
Lachend entwand er sich, und sie musste ihn davonkommen lassen, weil er sie mit seinem Funkelblick bezirzte und ihr gleich darauf statt einer Antwort einen Kuss anbot. In Wahrheit aber hatte er ihr aus seinem Leben nichts erzählt als ein paar farbenprächtige Anekdoten, in denen zwar die Städte des Südens, das glitzernde Wellenspiel des Meeres und die Weisheit fremder Völker erstrahlten, er selbst jedoch nicht die geringste Rolle spielte.
Sie wusste, dass er auf einem Grashalm pfeifen konnte, liebend gern Zweige wilder Minze kaute und ein linkes Augenlid besaß, das ein wenig schräger hing als das rechte, aber sie wusste nicht, wer seine Eltern waren. Sie wusste, dass er, ehe er sie küsste, unmerklich lächelte, dass seine Ohren empfindlich waren und seine Fußsohlen kitzlig, aber sie wusste nicht, warum er seine Freiheit hinschenken und seine sinnliche Lebenslust in ein Kloster sperren wollte. Sie wusste, dass er sie liebte, fühlte sich in jedem Augenblick von ihm geliebt wie nie von einem Menschen, aber sie wusste nicht, warum diese Liebe ihn nicht in der Welt hielt, warum sie es ihm nicht wert war, um sie zu kämpfen.
Es war nicht mehr Mai. Das Korn stand längst hoch und reckte sich dem Schnitt der Sichel entgegen. In ein paar Wochen würde der Sommer vorüber sein, und was blieb ihnen dann?
»Komm«, sagte er, jetzt wieder sacht. »Wir wollen zurück sein, ehe es dämmert, ich mag dich im Dunkeln nicht alleine gehen lassen.«
»Und warum lässt
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