Das Mädchen aus dem Meer: Roman
der Sora angemessen versorgen könnte. Ihn aus Hommijrs Obhut zu reißen, wäre sein Todesurteil gewesen, und ihn zusammen mit unserem Körpermeister zu entführen, war zwar eine Option, aber nicht die Lösung des Problems, denn der beste Körpermeister ist machtlos ohne seine Instrumente. Wir konnten ja schlecht das ganze Ruhehaus abbauen und nach Montania verschiffen – zumal sich Markannesch alles andere als sicher war, ob er die Truppen meines Vaters zurückschlagen konnte; auch wenn dieser nur einen einzigen Versuch hatte, die Sternensilberquellen einzunehmen, weil er seine Manas im Falle einer Niederlage fortan über den Himmel würde schieben müssen.
So grübelte ich also ergebnislos vor mich hin, und dabei lern te ich die Freiheit kennen. Die Freiheit, zu kommen und zu gehen, wann und wohin ich wollte, ohne irgendjemandem Rechenschaft zu schulden und ohne auf irgendeinen schlecht gelaunten Aufpasser zu warten, der später zudem exakt Bericht über jeden meiner Schritte erstattete. Die Freiheit, niemandem sagen zu müssen, hinter welchen Strauch ich zu kacken gedachte, und die Freiheit, anfangs fluchend, später aber auch hin und wieder laut singend durch den Wald zu springen, ohne dass jemand meine schiefen Töne belächelte oder sich zumindest notierte, mich in einem Nachhilfekurs anzumelden. Und natürlich auch die Freiheit, mich auf sämtlichen erreichbaren Lichtungen von Cocha entkleiden und lieben zu lassen, sobald ich mich mit den neuen Verhältnissen arrangiert und sich das Wetter ein wenig gebessert hatte.
Einmal erwischten uns ein paar Lemurenkriegerkinder dabei, und nachdem sich das Gelächter gelegt hatte und wir der Meinung waren, sie mit einer ausreichenden Anzahl von Steinen und Stöcken getroffen zu haben, zeigten sie uns ihr Zuhause, das wir über eine Strickleiter erreichten. Man empfing uns freundlich und mit großer Neugier in der winzigen, aus insgesamt sechs Baumhäusern bestehenden Siedlung in schwindelnder Höhe, und ich lernte das Montania der Sümpfe als Heimat eines in der Tat primitiven, aber liebenswerten Volkes kennen, das zwar in mehr als einfachen Verhältnissen lebte und mangels Bildung stark zum Spirituellen neigte, aber keineswegs arm war. Die dichten Wälder boten den Menschen alles, was sie zum Überleben brauchten, und hier gab es niemanden, der ihnen das Wildern verbot oder einen Teil ihrer Beute als Abgabe beschlagnahmte. Selbst den kurzen, aber enorm harten Winter hatten sie gut überstanden. Niemand hatte sein Leben an die Kälte verloren, und auch ernsthaften Hunger hatte keiner gelitten, und darüber hinaus stellten diese Leute keine großen Ansprüche. Einige verdingten sich für einen geringen Lohn als Krieger für Gormo, um ihren Kindern eine Grundausbildung in einer der Städte des cyprischen Montanias zu ermöglichen oder ihre Familien mit Luxusgütern wie eisernem Kochgeschirr oder dergleichen zu versorgen. Aber es war genau, wie Markannesch gesagt hatte: Diese Menschen lebten nach ihren eigenen Regeln. Sie legten großen Wert auf ihre grundsätzliche Unabhängigkeit von Montania und sahen sich selbst auch nicht als Montanier, sondern als Angehörige ihrer Stämme, bestenfalls als Tagelöhner für Gormo. Was außerhalb ihrer Wälder geschah, interessierte sie nicht im Geringsten.
Mich hingegen interessierte es immer mehr, und das längst nicht mehr, um vor Cocha gut dazustehen. Nachdem ich mein Misstrauen gegen Menschen – und besonders solche, die in der Politik tätig waren – wieder auf ein gesundes Maß heruntergeschraubt hatte, begann ich Markannesch mit Fragen zu löchern, die er geduldiger und verständlicher beantwortete, als es vor ihm je ein erwachsener Mensch getan hatte. Dabei sorgte er sich um meinen Bruder Rossa wie ein Großvater und ließ auch ihm alle Freiheiten zukommen, die er ihm zugestehen konnte, ohne dass der Kleine Gefahr lief, sich den Hals zu brechen oder im Moor zu ertrinken. Außerdem hatte ich das zunehmend sichere Gefühl, dass Markannesch in jeder Situation ehrlich zu mir war.
Als ich ihn zum Beispiel auf Mikkokas Vorwurf ansprach, dass Kratt in Wirklichkeit nicht für die Paradieslosen, sondern allein für sich und einen geheimen Racheplan kämpfte, erklärte er mir geradeheraus, dass er sicher sei, dass sie sich nicht täuschte. Aber was Kratt wirklich antrieb, so gestand er mit sichtlichem Unbehagen, stand in diesen Tagen hintenan, weil er immerhin über ein Aufkommen von Zehntausenden Männern und Frauen verfügte, auf
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