Das Mädchen aus dem Meer: Roman
halben Tagesritt in nördliche Richtung endeten die Wälder wie abgeschnitten, und vor uns erstreckte sich eine schier unendliche Felswüste, die nur von wenigen, größeren Felsen gespickt wurde. Die Straße, die von Gormos Burgpyramide nach Kantorram, der Stadt an den Sternesilberquellen, führte, wand sich wie ein grauer Wurm über die karge Ebene, auf der nur wenige, zumeist stachelige Pflanzen und trockene Gräser wurzelten. Da war kein Baum, der Früchte hätte tragen können, kein Strauch, der den schneidenden Wind davon abgehalten hätte, Sand und kleine Steine über die Ebene zu peitschen, und kein Pelztier, das man hätte jagen können.
Abends schlugen wir zumeist unsere Zelte auf, aber wir rasteten auch in zwei kleinen Städten und in einem halben Dutzend Siedlungen, die um die wenigen Quellen herum errichtet worden waren. Doch das Wasser, das diese Schlammlöcher oder aus Felsen quellenden Rinnsale spendeten, reichte bei Weitem nicht aus, um Korn oder dergleichen anzubauen, und die einzigen Tiere, die sich unter diesen Voraussetzungen halten ließen, waren Dreihöckerspucker: abstoßend hässliche, mickrige Paarhufer, die im Idealfall alle fünf Jahre ein Kalb gebären, sodass alles, was sie zum Überleben der Montanier beitrugen, der eine oder andere Becher fast ungenießbar dickflüssiger Milch und ein wenig Wolle war. Aber dafür brauchten sie kaum Wasser und ernährten sich von den trockenen Grasbüscheln, die hier und da zwischen den Steinen herauslugten.
Auf den Märkten – oder dem, was man anmaßenderweise so bezeichnete – tauschten die Leute getrocknete Reptilien gegen Webdecken und Steinkrüge gegen Zahnhölzer. Weil kaum jemand Geld besaß, gab es längst keine feste Währung mehr. Der Wert der Dinge war abhängig vom Naturalienbedarf der entsprechenden Handelspartner. Viele der fensterlosen, an Bienenstöcke erinnernden Rundhäuser aus Stein wirkten so instabil, dass ich sie kaum betreten mochte und mehrere Male darauf bestand, doch ein Zelt zu errichten, statt die Gastfreundschaft der Bewohner zu beanspruchen. Aber am deutlichsten zeigte sich die Armut des Landes eigentlich an den Schulen.
An den Schulen , hatte Moijo immer behauptet, erkennst du die Zukunft des Landes.
Nun – wenn das so war, dann hatte Montania praktisch keine Zukunft, denn die Lernhäuser, die die Städte boten, waren kaum mehr als bessere Ställe, in denen unqualifizierte alte Menschen eine Handvoll Kinder ohne Bücher, Hefte und Tafeln unterrichteten. Während die übrigen Faronen Cyprias Unsummen in ganze Schulstädte investierten und jeder ihrer Untertanen ein fest im Gesetz verankertes Recht auf eine schulische Grundausbildung und eine Einschätzung durch ein Expertenkommitee nach sieben Jahren hatte, lehrte man den Nachwuchs in den Dörfern der Ebene zumeist zu Hause, wozu sich die Mütter und Väter mit sämtlichen Schülern abwechselten und ihnen beibrachten, was sie zu wissen glaubten. Und das war meist nicht viel, denn die wenigsten Montanier hatten je eine richtige Schule, wie ich sie von zu Hause her kannte, besucht.
Das also war das cyprische Montania, und ich sah ein, dass Markannesch keineswegs über-, sondern sogar stark untertrieben hatte, als er sein Volk als verarmt und ständig vom Hungertod bedroht bezeichnet hatte. Die Menschen in den Städten und Siedlungen außerhalb der Sümpfe waren unbedingt auf die bescheidenen Überschüsse aus den Wäldern angewiesen. Und natürlich auf die Gersten-, Weizen- und Reislieferungen aus den anderen Ländern, die auf Druck meines Vaters schon in den Monaten zuvor immens reduziert und nun sogar vollständig eingestellt worden waren. Dabei hatte jede noch so winzige Siedlung schon jetzt einen eigenen Friedhof voller offenbar sehr junger Gräber, die sich als Steinhügel um die Ortschaften herum abzeichneten. Der Winter hatte zahlreiche Todesopfer gefordert, die Nahrungsknappheit hatte ihr Übriges getan, und es gab kein Gewässer, in dem die Toten hätten versenkt werden können, und zu wenig Holz, um es darauf zu vergeuden, die Leichen zu verbrennen. Allein in den wenigen Tagen unserer Reise wohnten wir dreien dieser Begräbnisse bei, und obwohl das im cyprischen Montania eine ebenso kurze zweckgebundene Maßnahme ist wie eigentlich überall sonst auf unserem Kontinent, war es doch jedes Mal bedrückend zu sehen, wie wieder eine Leiche verscharrt und ihr Grab mit einem Steinkreis gekennzeichnet wurde, damit niemand versehentlich genau an dieser Stelle nach
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