Das Mädchen aus dem Meer: Roman
ihr hinab und versuchte, sie ins Boot zu ziehen.
»Was machst du da?«, entfuhr es Chita entsetzt.
»Ich rette dich«, antwortete Froh, der kaum genug Kraft hatte, die Leiche festzuhalten, geschweige denn, sie über die Bootswand zu ziehen. »Hilf mir, dir zu helfen«, bat er darum.
»Hör sofort auf damit!« Chita schrie fast.
Froh erschrak, ließ den Arm des toten Kindes los, an dem er gerade angestrengt gezerrt hatte, und erwischte die Leiche gerade noch am Schopf, ehe sie ganz unter dem Boot verschwinden konnte. Als er verwirrt zu der Fremden hinsah, übergab sie sich ins Meer. Aber es war nur saurer Magensaft, der in die Fluten plätscherte.
Wieder zerrte er angestrengt an der Kinderleiche.
»Lass es los! Lass dieses Kind sofort los!«, kreischte Chita, als der Würgereiz nachließ, strampelte mit den Füßen und traf ihn schmerzhaft am Schienbein. »Du barbarischer Primitiver! Ich weiß, was du vorhast! Du willst sie aufessen, du Tier!«
Froh verneinte. »Ich will dir nur helfen«, erklärte er verständnislos. »Du hast Hunger und Durst.«
Chita sprang auf, sodass das Boot gefährlich schwankte und wohl allein der nicht unerheblichen Last all der seltsamen Dinge halber, die sie gerade an Bord geschaufelt hatte, nicht umkippte. Sie packte ihn mit bemerkenswerter Kraft an den Haaren und schlug seine Stirn mit brutaler Gewalt auf das hölzerne Fass, das sie zwischen seinen Schenkeln deponiert hatte und seine Beine unangenehm spreizte.
Froh fühlte dumpfen Schmerz. Ein dunkelroter Fleck füllte sein Gesichtsfeld aus, und erst als dieser wieder zu einem winzigen, kaum noch sichtbaren Punkt zusammengeschrumpft war, bemerkte er, dass er die Leiche losgelassen hatte. Die Wellen hatten sie viele Mannslängen weit fortgespült.
»Du bist widerlich«, flüsterte Chita, die sich wieder in ihr Bootsende hatte sinken lassen. »Du wolltest mich mit einer Leiche füttern. Mit einem toten Menschen! Und das, nachdem ich dir gerade erst vom Tod meiner Schwester berichtet habe … Ich kann es nicht glauben. Es stimmt also, was man sich über euch erzählt.«
»Was erzählt man sich über uns?« Seine Lippen sprachen die Worte fast ohne sein Zutun, und die Antwort interessierte ihn auch nicht ernsthaft. Das Mädchen belog ihn nicht nur die ganze Zeit nach allen Regeln der Kunst (er hatte es aufgegeben, ihre Erzählungen als Bildergeschichten verstehen zu wollen), sondern hatte ihn gerade auch noch verletzt, weil er ihr hatte helfen wollen. Sie war sehr boshaft. Seine Prüfung war noch lange nicht überstanden.
»Dass ihr kannibalische Simpel ohne Stolz und Würde seid«, antwortete Chita bitter. »Und für euch habe ich so viel riskiert … Hier. Trink.«
Sie legte eine der Flaschen auf dem Fass ab, gegen das sie eben noch seinen Kopf geschlagen hatte. Tatsächlich war irgendetwas Flüssiges darin. Da sie fest verschlossen schien, konnte es kaum Salzwasser sein. Dennoch schüttelte Froh den Kopf. Abgesehen davon, dass er ihr trotz allem keinen einzigen Schluck Trinkwasser nehmen wollte, misstraute er der Flasche selbst sogar noch mehr als dem Inhalt.
»Es ist nur Glas, du Dummkopf. Gefärbtes Glas. Hättest du mir zugehört, wärst du längst von selbst darauf gekommen«, erklärte Chita, als hätte sie in seinen Gedanken gelesen. »Und außerdem kannst du mich nicht weiter retten, um deinen nicht existenten Göttern einen vermeintlichen Gefallen zu erweisen, wenn du selbst verdurstet bist. Also trink jetzt. Sie ist noch halb voll.«
Froh zögerte einen letzten Moment, gab sich dann jedoch – nicht zuletzt infolge ihrer unheimlichen Fähigkeit, seine Gedanken zu lesen – geschlagen und entkorkte die Flasche mit größtmöglicher Vorsicht.
Und das alles für eine gestohlene Muschel?, überlegte er im Stillen und schämte sich gleich darauf für den Gedanken, der schon wieder eine Sünde für sich war.
Er setzte den Flaschenhals an die Lippen und nippte vorsichtig. Die Flüssigkeit, die seine trockenen Lippen benetzte, war süß und klebrig und schmeckte ein wenig nach Beeren, aber auch nach etwas, das er nicht zuordnen konnte. Trotzdem nahm er tapfer einen kleinen Schluck, denn die Fremde beobachtete ihn streng.
Ehe die Flüssigkeit ganz seine Kehle hinabgeronnen war, beugte sich Chita wieder vor und riss ihm die Flasche aus der Hand.
»Ich wollte nur wissen, ob es noch gut ist«, sagte sie. »Wäre es schlecht, hättest selbst du nicht anders gekonnt, als es in diese elende Fischwüste zu spucken.«
Sie trank
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