Das Mädchen aus dem Meer: Roman
zu verlieren. Weil er sich immer so leicht gefühlt hatte, als trüge sie ihn in den Himmel hinauf – ganz weit über die Wolken, wo sie die Götter besuchen könnten, die sie beide nicht nur erschaffen, sondern auch zueinander geführt hatten.
Und weil er Ivis rauschende Stimme aus den Muscheln zu sich sprechen gehört hatte, als er sie ans Ohr hielt.
Er hatte geglaubt, der Gott des Meeres hätte gesagt, dass er es ruhig tun soll, dass er die Muscheln nicht brauchte, weil er doch so unendlich viele davon habe. Sie entstammtem dem Meer, und das Meer gehörte Ivi. War es nicht völlig unsinnig, etwas aus seinem Besitz zu nehmen, um es ihm dann auf dem Felsen zu opfern?
Aber da hatte Froh wohl etwas falsch verstanden.
Darum war er nun hier, und alles schmeckte nach Fisch. Sein Magen schmerzte; seine Gelenke, die Muskeln und sein wund gescheuertes Gesäß sowieso. Trotzdem stieß er die Ruder im Takt seines Atems in die Fluten, regelmäßig wie eine … Wie lautete das Wort, das Chita so häufig benutzte?
Wie eine Maschine, genau.
Das dachte er, während sich das Baumboot mühselig durch die Wellen schob, die ihm zunehmend wie eine zähe, klebrige Masse erschienen, als bestünden sie nicht aus salzigem Nass, sondern aus Honig (der nach Fisch schmeckte). Außerdem überlegte er, was wohl sein letzter Gedanke sein würde, wenn er starb, und vor allem, was sein letzter Gedanke sein sollte . Hoffentlich, dachte Froh, dachte er nicht aus Versehen: Selbst der Tod schmeckt nach Fisch. Hoffentlich dachte er irgendetwas Ehrfürchtigeres. Zum Beispiel: Oh, Ivi, ich habe für meinen Fehler gebüßt – bitte erkenne meine Reue und sorge dafür, dass Niedlich wenigstens nicht mit dem Medizinmann vermählt wird, denn der hat faulige Zähne …
Na ja. Das klang auch nicht allzu ergeben.
Seit vielen Tagen und Nächten paddelte er nun schon über den Ozean, und es war nicht das erste Mal, dass die Entbehrungen so groß waren, dass er sein eigenes Ende mit großen Schritten nahen sah. Doch es war nur sein Körper, der litt, wies er sich im Stillen zurecht, und er hatte es sich redlich verdient. Im Bewusstsein, vor einem gerechten Gott für sein respektloses Vergehen zu büßen, sollte er dem Tod, der seine Seele aus den Trümmern des Gefängnisses aus Fleisch und Blut befreien würde, trotz allen Elends erwartungsfroh entgegensehen. Bis jetzt war es doch auch ganz leicht gewesen. Die ganze Zeit über hatte er sich selbst nur dann das Nötigste an Hilfe geleistet, wenn das Unterlassen ihn das Leben gekostet hätte. Und das auch nur, weil er kein Recht hatte, darüber zu entscheiden, wann und wie es zu Ende gehen würde. Auch er war schließlich ein Teil der göttlichen Schöpfung. Absichtlich zu verdursten, wäre eine Sünde gewesen, die in keinem Vergleich zu seinem Vergehen am Opferfelsen gestanden hätte und die absolut unverzeihlich gewesen wäre. Ein Leben, und währte es noch so lange, hätte nicht ausgereicht, so viel Buße zu tun.
Aber seit Chita da war, war alles viel komplizierter …
»Es war eine Strafe«, erklärte er matt, als die Fremde eine Weile in Gedanken versunken geschwiegen hatte. »Vielleicht dafür, dass er deinen Bruder so schlecht behandelt hat.«
»Es war Vererbung«, wies Chita ihn knapp zurecht. »Und ich habe Durst, Froh.«
»Es wird bald regnen«, versprach Froh.
»Vorher wird man uns an Land gebracht haben«, behauptete Chita. »Aber ganz bestimmt sind wir nicht die Einzigen, die sehnlichst auf Hilfe warten und schon geortet wurden. Vielleicht müssen wir doch noch bis morgen oder übermorgen ausharren. Bis dahin könnte es zu spät sein. Meine Haut fühlt sich an wie gegerbtes Leder. Sie schmerzt. Und mein Hals brennt und kratzt. Meine Lippen bluten.«
Froh tauchte schweigend die Paddel in die Wellen. Wasser spritzte in den ausgehöhlten Baumstamm, der sein Boot war, und verdampfte auf dem glühend heißen Holz.
»Ich muss mich abkühlen«, entschied Chita und setzte dazu an, über die Bootswand zu klettern.
»Das Meer ist voller Monster. Schöpfe lieber ein wenig Wasser mit der Hand«, empfahl Froh. »Doch versprich dir nicht zu viel davon. Es schadet der Haut mehr, als es ihr nützt.«
»Ich werde es überleben«, winkte Chita ab, schob ein Bein über die Bootswand und tauchte die Zehenspitzen ins Wasser. »Viel zu warm … Kannst du kurz aufhören zu paddeln? Ich – he! Da! Froh, sieh nur! Los, paddle schneller! Da hinten!«
Sie gestikulierte wild in eine bestimmte Richtung. Er
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