Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
fähig sind, meine Tochter“, fügte sie beinahe sanft hinzu.
Die Welt begann sich vor Reevas Augen zu drehen. Alles, der Himmel, die Wolken und die Bäume, schienen sich rasend schnell auf sie zuzubewegen, auf sie einzustürzen, sie unter sich zu begraben. Sie schwankte wie unter einer schweren Last, bis sie von zwei kräftigen Händen festgehalten wurde.
„Reeva, hör mir zu. Wir müssen so schnell wie nur irgend möglich von hier fliehen, verstehst du mich? Wir haben nicht viel Zeit.“
„Wie lange?“, fragte Reeva tonlos.
„Noch wenige Stunden, dann wird Gott das Kind zu sich holen. Ehe die Sonne untergegangen ist, werden sich die Männer des Dorfes zusammenrotten und uns suchen.“
Die Alte hatte ihre Fassung nun wiedererlangt. Eilig lud sie Reeva eines der beiden großen Bündel auf, in denen sich die Kräuter sowie Werkzeug, Geschirr und andere Dinge befanden, die sie sich auf ihrer Wanderung verdient hatten. Dann fasste sie das Mädchen an der Hand und zog es mit sich.
Äußerlich nahm Reeva anfangs kaum etwas wahr, weder das Gewicht des Bündels, noch die Schmerzen in ihrem überanstrengten Bein; doch irgendwo in ihrem Innern fühlte sie eine lähmende Angst. Sie hatten so wenig, so unglaublich wenig Zeit! Immer wieder vergewisserte sie sich mit einem Blick zur Sonne, dass diese noch am Himmel stand und sie an Vorsprung gewannen. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass Enva die Zukunft richtig vorhergesagt hatte und die Männer sich vor Einbruch der Nacht auf die Jagd nach ihnen machen würden. Und dann? Dann würde es ein Wettrennen geben, wie es ungleicher nicht sein konnte: kräftige Männerbeine gegen jene eines verkrüppelten Mädchens und einer buckligen Greisin. Was nutzten ihnen da zwei oder drei Stunden Vorsprung? Noch dazu lag der Hof des Bauern weiter vom Wald entfernt als das Dorf. Wenn sie also ohne Umwege in den Schutz der Bäume gelangen wollten, mussten sie sogar direkt auf das Dorf zuwandern, und dann daran vorbei. All das ließ die Hoffnung zu entkommen verschwindend klein werden …
Endlich machte sich doch die Müdigkeit von der fast durchwachten Nacht und der gestrigen Wanderung bei Reeva bemerkbar. Mehrmals flehte sie, doch wenigstens das Bündel abwerfen zu dürfen, aber Enva ließ sich nicht erweichen: „Wir werden die Sachen bitter nötig haben, wenn wir erst einmal zu Hause sind“, sagte sie fest, ohne ihr Tempo zu verringern. Schließlich hielt Reeva diese Worte nicht mehr aus, und sie schrie die Alte verzweifelt an:
„Wenn ich aber weiterhin dieses schwere Gepäck tragen muss, werden wir unser Zuhause niemals wiedersehen!“ Gleich darauf schämte sie sich für diesen Ausbruch, doch Enva öffnete ihr Bündel und ließ schweigend einige Töpfe und Schalen an den Wegrand fallen. Reeva starrte auf die Scherben, die im Licht der tief stehenden Sonne aufblitzten …
***
Noch nie in ihrem bisherigen Leben hatte Reeva den Einbruch der Nacht so sehr gefürchtet wie an diesem Abend. Während sie mit heftigen Schmerzen in der Seite einen Hügel erklomm, war sie längst davon überzeugt, zum letzten Mal den Sonnenuntergang zu erleben. Inmitten des Waldes, der sich hinter dem Hügel erstreckte, lag friedlich die kleine Hütte … ihr Zuhause, in das sie nun nie mehr zurückkehren sollten.
Im Geiste sah sie, wie die Bauersfrau schreiend zu der geflochtenen Wiege stürzte und den kleinen Leichnam an sich riss; wie der Bauer blind vor Wut aus dem Haus und in Richtung Dorf stürmte; wie sich dort die Männer versammelten und ein Aufschrei durch die Menge ging: „Hexe, Hexe!“ Zwei Hexen hatten sich in diesem Dorf aufgehalten, zwei Hexen hatten den Bauern hereingelegt und ein unschuldiges Kind getötet, um es dem Gehörnten darzubringen! Es galt, diese beiden Teufelsweiber zu jagen und zu fangen!
Schluchzen mischte sich in Reevas erschöpftes Keuchen; dann ließ Envas Aufschrei sie zusammenzucken. Die Alte packte sie, stieß sie geradezu den Hügel hinauf.
Sie kamen.
Gestalten waren am Horizont aufgetaucht, die sich dunkel vor dem rötlich verfärbten Himmel abhoben. Reeva warf einen schnellen Blick über die Schulter und hinkte von einer Panikwelle getrieben weiter.
Das konnte einfach nicht wahr sein. Die Wirklichkeit von heute Morgen schien verzerrt, auf grausame Weise verunstaltet worden zu sein: Waren das dieselben Menschen, deren Wunden sie behandelt hatte – die Hilfe suchend zu ihr gekommen und dankbar lächelnd wieder von ihr fortgegangen
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